09/2022

In diesem Heft

Tipp

Mannheim, 7.–9.10. – Zum 36. Mal veranstaltet das Mannheimer Symposium im Cinema Quadrat ein Forum für den Austausch zwischen Filmschaffenden, Filmkritikern und Publikum. In diesem Jahr lautet das Thema »Female Gaze – der weibliche Blick!«. Mit Filmsichtungen und Vorträgen soll erforscht werden, wie sich der ursprünglich männlich dominierte Film verändert und Frauen neue Perspektiven und Ästhetiken einbringen.
Hamburg, 29.9.–8.10. – Die 30. Jubiläumsausgabe des Filmfests Hamburg wartet mit 110 Produktionen aus aller Welt als Europa-, Deutschland- oder Hamburg-Premiere auf. Zur Eröffnung läuft die Verfilmung von Johann Scheerers autobiografischem Roman »Wir sind dann wohl die Angehörigen«. Als Festival im Festival fungiert das ukrainische Kurz- und Langfilmfestival Molodist Kyiv, das seinen nationalen Wettbewerb dieses Jahr in Hamburg austrägt.
Schwerin, 30.8.–4.9. – Mit 150 Filmen an 7 Tagen und drei verschiedenen Spielorten geht das Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern an den Start, darunter 20 aktuelle und historische Produktionen des Gastlandes Rumänien. Eine Hommage gibt es an den diesjährigen Ehrenpreisträger Matthias Habich.
Recklinghausen, ab 24.8. – Die Reihe Kirche und Kino, die monatlich einen diskussionswürdigen Film auf die Leinwand der Cineworld Recklinghausen bringt und das Kirchliche Filmfest veranstaltet, feiert ihr 20-jähriges Jubiläum. Dazu gibt es am 23. und 24. September die Sonderveranstaltung »Unbequeme Filme«. Im Oktober zeigt die Reihe dann »Belfast«.
Das Spiel mit Identitäten und die Irrungen der Pubertät ziehen sich durch Céline Sciammas vorläufiges Gesamtwerk. »Porträt einer jungen Frau in Flammen« sticht heraus. Fünf Filme in einer Box.
In »Minx« kämpft eine frauenbewegte Journalistin im Kalifornien der 70er Jahre für ein besseres Frauenmagazin.
»Im Tiefenrausch. Film unter Wasser«, die neue Ausstellung des DFF, Deutsches Filminstitut und Filmmuseum, ist ein sinnliches Erlebnis.
Was passiert, wenn der »Sandman«, zuständig für Wunsch- und Alpträume der Menschen, von diesen gekidnappt wird? Mit der Verfilmung von Neil Gaimans kultiger Comicreihe wird nach 30-jähriger Wartezeit ein Traum wahr.
Die kosovarische Regisseurin Blerta Bashollis erzählt in sensiblen Bildern die erschütternde und gleichzeitig hoffnungsvolle Geschichte einer Frau, die sich gegen die patriarchalen Strukturen ihres vom Krieg gezeichneten Dorfes auflehnt.
Wenn ein Mann stirbt: In »Bad Sisters« werden fünf Schwestern in Irland verdächtigt, ihren Schwager, beziehungsweise Gatten umgebracht zu haben.
Der Altmeister erfindet sich neu: Dario Argentos »Dark Glasses« als Mediabook.
Unheilvolle Wiederholung: »Munich Games« spielt 50 Jahre nach dem Attentat bei den Spielen 1972 in München: Bedroht wird eine Versöhnungs- und Gedenkveranstaltung.
Der Spion, der in die Kälte ging : Katz-und-Maus-Spiel in »Cliff Walkers«.
Warte, bis es dunkel wird: »Alles finster« verhandelt das sehr präsente Thema Blackout als fiktionale Fallstudie mit Slapstick-Einlagen.
»House of the Dragon« soll den Auftakt zu einer Reihe von Serien im »Game of Thrones«-Universum bilden. Die Erwartungen sind hoch, der Anschluss an den früheren Hype scheint fast unmöglich. Mit einer namhafteren Besetzung und mehr weiblicher Sensibilität will man alte und neue Fans gewinnen.
Oskar Werner zum 100. Geburtstag. Eine Ausstellung in Wien ehrt den Schauspieler, den das Theater entdeckte und der mit dem Kino zum Weltstar wurde. Obwohl er berüchtigt war für seine Absagen.
In »Kleo« mischt Jella Haase als ehemalige DDR-Topspionin das frisch vereinigte Berlin tüchtig auf. Garantiert kein Zeitgeschichtsdrama.
Die Miniserie »Das Haus im Wald« von 1971 ist integraler Bestandteil im Werk des französischen Regisseurs Maurice Pialat und jetzt wieder auf arte zu sehen.
Ron Howard verfilmt mit »Dreizehn Leben« die aufsehenerregende Rettungsaktion von 13 Teenagern aus einer überfluteten Höhle in Thailand. Als waghalsige Taucher dabei: Viggo Mortensen und Colin Farrell.
Was, wenn der Premier zurücktritt und virtuell die Russen angreifen: »The Undeclared War« spielt ein Zukunftszenario durch, das unangenehm nah an der Gegenwart liegt.
Als Prequel zum »Predator«-Franchise sorgt »Prey« nicht nur für frischen Wind im eigenen Universum – das Setting und der Umgang mit Repräsentation sind beispielhaft fürs ganze Actiongenre.
Der Rollenwandler: Sean Penn in »Flag Day« als Hochstapler John Vogel, der seine Familie belügt.
Das Doku-Drama »1972 – Münchens Schwarzer September« beleuchtet einige bislang wenig behandelte Aspekte des tragisch endenden Attentats.
Am 21.9. spricht Rosalie Thomass im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit epd-Film-Autor Ulrich Sonnenschein über ihren Film »Jagdsaison«.
Gestern, heute, für immer? Thomas Koebner über das wankelmütige Gedächtnis des Films.
Einspruch gegen das Kinosterben: zwei schöne Bände über die Lichtspielhäuser von Wien.

Thema

Brütend, intensiv – das kann der französische Schauspieler Denis Ménochet besonders gut. Passt genau für die Titelrolle von François Ozons Fassbinder-Paraphrase »Peter von Kant«.
Von hier und heute geht eine neue Epoche aus: Das Berliner »Arsenal« war die Keimzelle einer neuen Kino-Kultur-Bewegung. Kleine Geschichte der Kommunalen Kinos und ein Interview zur Lage.
Die Filme des Japaners Ryūsuke Hamaguchi wirken manchmal wie hingetupft. Aber sie haben es in sich. Jetzt kommt »Das Glücksrad« ins Kino.

Meldung

Cornelia Klauß, geboren 1962 in Dresden, lebt in Berlin, war von 1990 bis 2005 Programmdirektorin des Filmkunsthauses Babylon und von 2010 bis 2016 medienpolitische Sprecherin des Bundesverbands kommunale Filmarbeit. Seit 2017 ist sie Sekretär der Film- und Medienkunst an der Akademie der Künste.
Das Festival von Motovun ist berühmt für seine Atmosphäre. Dass es auch eine Hochburg des Indiefilms ist, bestätigte sich in diesem Jahr.
Annika Pinske 40, Regisseurin und Drehbuchautorin, arbeitete als Assistentin von Maren Ade und hat viel beachtete Kurzfilme (»Spielt keine Rolle«, »Homework«) gedreht. Ihr Spielfilmdebüt »Alle reden übers Wetter« lief auf der Berlinale und startet jetzt im Kino.
Das Festival Locarno setzt weiterhin auf den Nachwuchs, entlegene Filmländer und aktuelle Diskurse.

Filmkritik

Eine junge, ehrgeizige Balletttänzerin zieht sich bei ihrem Soloauftritt einen Bänderriss zu, der ihre Karriere zu beenden droht. Aber Cédric Klapisch, der Meister der filmischen Zuversicht, hat noch viel mit ihr vor. In dieser vielstimmigen, emphatischen Hymne an die Kreativität absolviert Primaballerina Marion Barbeau einnehmend ihre erste Kinorolle.
François Ozon huldigt seinem Vorbild Fassbinder mit einer schwulen Neuinterpretation des Kammerspielmelodrams »Die bitteren Tränen der Petra von Kant«. Zu glatt und kalkuliert, um wirklich zu berühren.
Die Enddreißigerin Clara promoviert in Berlin und kehrt zum 60. Geburtstag ihrer Mutter in die alte Heimat in die brandenburgische Provinz zurück. Annika Pinske gibt mit einem brandaktuellen, angenehm unaufgeregten Debüt Einstand: über die Differenz zwischen dem urbanen Bildungsbürgertum und dem dörflich-proletarischen Gepflogenheiten. Ein pointiertes Gesellschaftsporträt.
Die kosovarischen Regisseurin Blerta Bashollis erzählt in sensiblen Bildern die erschütternde und gleichzeitig hoffnungsvolle Geschichte einer Frau, die sich gegen die patriarchalen Strukturen ihres vom Krieg gezeichneten Dorfes auflehnt.
Anhand zweier Chorleiterinnen und einem Chorleiter eröffnet das Regieduo Dobmeier und Striegnitz einen neuen Blick auf die Faszination des Chorsingens und -dirigierens. Voller Empathie und im Sog der Musik mitreißend porträtieren sie drei außergewöhnliche Persönlichkeiten.
Mit wehmütigem Blick zeichnen Judit Kalmár und Céline Coste Carlisle in ihrem Dokumentarfilm das allmähliche Verstummen des traditionellen Fado in Lissabon nach.
Mit seiner zurückhaltend inszenierten Langzeitbeobachtung zeichnet Frank Wierke das ebenso bewegende wie melancholische Porträt des Dichters und Verlegers Michael Krüger.
Auf der Suche nach einem Job landet eine Gourmetköchin in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und erkocht mit ihnen gesellschaftliche Anerkennung: eine Sozialkomödie, deren Plädoyer für verstärkte Ausbildungsanstrengungen etwas naiv und oberflächlich inszeniert ist.
Bei einem Stopp an einer Tankstelle verschwindet die Ehefrau des Immobilienentwicklers Will spurlos. Wurde sie Opfer eines Mörders, geht es um eine Erpressung oder sonst etwas? Thriller, der nach einem vielversprechenden Auftakt nicht mehr zu bieten hat als den Zuschauer verwirrende Ablenkungsmanöver und Gerard Butler in einer weiteren Actionrolle.
150 Jahre nach der Niederschlagung der Pariser Commune erwacht der Komponist und damalige Communarde Hans List im Berlin des Jahres 2021 wieder zum Leben. Und das ist nur eine unter vielen wunderbar komischen Absurditäten, mit denen Max Linz in seiner anarchischen Slapstickkomödie eine Verbindungslinie von der autoritären Vergangenheit in die deutsche Gegenwart zieht.
Brett Morgens Dokumentarfilm über David Bowie ist ein assoziativer Bilderrausch, der weniger biographische Eckdaten abarbeitet als das komplexe Wesen seiner sich ständig wandelnden Kunst und seiner Lebensphilosophie zu umkreisen.
Der Dokumentarfilm über zwei Neueinstudierungen früher Pina Bausch Inszenierungen ist die faszinierende Studie eines künstlerischen Prozesses, dessen Tanzpassagen und Reflektionen ebenso erhellend wie bewegend sind.
In der Lagune von Venedig will Daniele mit seinem hoch frisierten Motorboot der schnellste sein. Zwischen dokumentarischer und fiktionaler Form erzählt Ancarani ohne Drehbuch in einem realen Milieu seine Geschichte um Konkurrenz-Gebaren und Hedonismus. Ein produktiver, selbstbewusst überästhetisierter Grenzgang voller fantastischer Bilder.
Dokumentarfilm über Ulrich und Erika Gregor, die sich über drei Jahrzehnte mit dem Kino Arsenal und dem »Internationalen Forum des Jungen Films« um die Filmkultur in Berlin und Deutschland verdient machten. Ein fast ganz auf die beiden fokussierter Film, der Lebensgeschichte und Filmgeschichte aufs Schönste miteinander verschränkt.
Stille Reflektion einer intellektuellen Frau, die in der Konfrontation mit sich selbst unangenehmen Wahrheiten begegnet, diese aber schließlich bewältigt. Eine Glanzrolle für die im Alter immer besser werdende Isabelle Huppert.
In ihrer Kultur-Clash-Komödie macht Doris Dörrie das Freibad zum Austragungsort für virulente Fragen über Freiheit, Frauenrechte und Demokratie in der multikulturellen Gesellschaft und jongliert in einer sketchhaften Abfolge von Szenen mit gängigen Klischees und Vorurteilen.
Ryûsuke Hamaguchi füllt das altgediente Format des Episodenfilms mit frischem, komödiantischem Elan. Drei so intrigen- wie wortreich konstruierte Kurzfilme über Sehnsucht, Verletzbarkeit und die Segnungen des Zufalls summieren sich zu einer moralischen Erzählung in der Nachfolge Eric Rohmers. Der behände Lockdown-Film, mit kleinem Budget und Stab quasi parallel zu »Drive My Car« gedreht, fungiert als dessen Gegenstück und vergnügliche Ergänzung – und bekräftigt Hamaguchis Ruf, einer der aufregendsten Schauspieler-Regisseure der Gegenwart zu sein.
Feinfühlige Romanverfilmung des Bestsellers von Dörte Hansen, in der die Frage nach dem Verlust zwischen persönlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Realität auf dem Lande verhandelt wird. Und Charlie Hübner ist wieder mal großartig.
Distanziert und doch mit großer Anteilnahme beobachtet der serbische Regisseur drei obdachlose Frauen, die in den Ruinen des nie fertiggestellten Revolutionsmuseums in Novi Beograd leben, und verhandelt das Thema der gescheiterten Träume auf mehreren Ebenen.
Spannende Zeitreise in die Geschichte der Frauenbewegung und in der ersten Hälfte ein fesselndes Portrait von Person und Wirken Alice Schwarzers, kippt Sabine Derflingers Film in eine Hagiografie zu Lebzeiten, die sämtliche Kritik ausblendet und als heroische Verklärung und Lobhudelei endet.
Mohammad Shawky Hassan zündet in seinem Langfilmdebüt ein wahres Feuerwerk an popkulturellen Referenzen. So ermöglicht er einen anderen, von Klischees befreiten Blick auf das Leben homosexueller Männer in der arabischen Welt und entdeckt den Camp noch einmal neu.
George Miller erwünscht sich mit einer Fabel übers Wünschen den eigenen Wunsch nach einem »Anti-Mad-Max«-Film. Aber seine Referenz an »Geschichten aus 1001 Nacht« scheitert sowohl an der mangelnden Chemie zwischen den Hauptdarstellern Tilda Swinton und Idris Elba als auch an zu viel Biederkeit und Konventionalität.
Über fünf Jahre begleitet der selbst aus Rumänien gebürtige Filmemacher eine Gruppe von Roma, die regelmäßig zwischen ihrem Heimatdorf in den Subkarpaten und Hamburg pendelt, um dort zu betteln. Indem sie die Armen in Würde zeigt, richtet die formal unspektakuläre Dokumentation ihre Forderung nach Respekt auch an die Zuschauer. Eine wertvolle und wichtige Blick-Berichtigung.
Eine zerrüttete Restfamilie sucht Heilung auf Safari in der afrikanischen Savanne, und wird durch den Rachehunger eines bösen Riesenlöwen gezwungen, sich zu verbünden. Was ein packender B-Movie-Survivalthriller mit prominenter Besetzung von Idris Elba sein könnte, ist nur eine Ansammlung von Cheap Thrills, skizzenhaften Figuren und hanebüchenen Dialogen.
Peele hat es wieder getan; nach »Get Out« und »Wir« legt er mit dem als Science-Fiction-Horror-Satire im Western-Setting nur unzureichend beschriebenen »Nope« – den er wie die Vorgänger nach eigenem Drehbuch inszenierte – ein wunderbares Beispiel für das vor, was sich gewinnen lässt, wenn einer etwas wagt; nicht zuletzt faszinierende Erkenntnisse über das Wesen des Spektakels.
Die buchstabengetreue Filmadaption eines Bestsellerromans lässt gerade in jenem Aspekt Inspiration vermissen, der dieser Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das sich allein in der Wildnis in North Carolina behauptet, ihren Reiz verlieh: so hübsch die emanzipatorische Saga ausgestattet ist, so fehlen doch jene schwelgerischen Naturpanoramen, die den Ruf der Wildnis, dem die Heldin folgt, zumindest ästhetisch beglaubigen.
Viele Killer aus der ganzen Welt jagen in einem Hochgeschwindigkeitszug einem Koffer mit Geld hinterher. Mit den schlagfertigen Dialogen, einem illustren und diversen Ensemble schillernder Stars und Nebendarsteller und einer Fülle eingeschobener Rückblenden wirkt das wie eine Achterbahnversion der ausgeklügelten Handlungschoreografien von Quentin Tarantino, durchaus amüsant, aber auch leicht ermüdend.

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