Festival Locarno – Stunde der Frauen

»Regra 34« (2022)

»Regra 34« (2022)

Das Festival Locarno setzt weiterhin auf den Nachwuchs, entlegene Filmländer und aktuelle Diskurse 

Am Ende triumphierten die Frauen, der Goldene Leopard ging – zum erst neunten Mal in 75 Jahren Festivalgeschichte – an eine Regisseurin, die Brasilianerin Julia Murat für ihren Film »Regra 34«, während Valentina Maurels »Tengo suenos eléctricos« mit dem Spezialpreis der Jury und Auszeichnungen für Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin gewürdigt wurde. War dies ein eher klassisch erzählter Film über eine 16-Jährige, die nach der Scheidung der Eltern lieber beim Vater leben möchte, sich aber zunehmend mit dessen Unzulänglichkeiten konfrontiert sieht (bis zu einer beklemmend harten Konfrontation am Ende), so kam »Regra 34« von Anfang an provokativ daher: Die schwarze, bisexuelle Mittzwanzigerin Simone studiert Jura und will sich auf die Verteidigung von Frauen spezialisieren, die unter häuslicher Gewalt leiden. Daneben betreibt sie Webcam-Sex, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch, um sich auszuprobieren, Grenzen auszuloten und zu überschreiten, vor allem in Richtung Bondage. Von ihrer Freundin vor den Risiken gewarnt, endet der Film damit, dass sie zum ersten Mal aus der Anonymität des Internets heraustritt und bereit ist, einen gut zahlenden Kunden für einen Hausbesuch zu empfangen. Während der bereits energisch gegen ihre Tür klopft, zögert sie für einen Moment. Was wie eine klassische Warnung endet, gefällt vorher durch eine gewisse Leichtigkeit, durch das Nebeneinander von unverkrampften Sexszenen und dramatischen Momenten.

Eine originelle Erzählung weiblicher Selbstermächtigung bot auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag »Piaffe« von Ann Oren. Für ihre kranke Schwester als Geräuschemacherin bei einem Werbespot eingesprungen, wo sie Pferdegeräusche erzeugen muss, wächst Eva ein Pferdeschwanz, der wiederum einen Biologieprofessor stimuliert, der nicht nur über das aufregende Sexleben von Farnen zu dozieren weiß, sondern sich als Bondage-erfahren erweist. Der magische Realismus dieser Erzählung durchzog auch andere Wettbewerbsfilme – Carlos Conceição portugiesischen »Nacao Valente« etwa, in  dem eine  Soldatengruppe im letzten Jahr der Kolonialherrschaft in Angola sich für einen Moment mit ihren einheimischen, zombifizierten Opfern konfrontiert sieht, und Ming Jin Woos »Stone Turtle« (Malaysia/Indonesien), der als Asylgeschichte einer jungen Frau beginnt, die sich mit dem illegalen Verkauf von Schildkröteneiern über Wasser hält, der sich aber mehr und mehr zu einer Geister- und Rachegeschichte entwickelt. Dafür gab es den Preis der Kritikerjury. 

Das Genre-Element, das sich allerdings in diesem Jahr am häufigsten wiederfand, war das des Thrillers. Halluziniert die Polizeikommissarin (Sophie Marceau), die nebenbei erfolgreiche Romane schreibt, nur, wenn sie eine Affäre ihres Mannes vermutet? (Jean Paul Civeyracs »Une femme de notre temps«). Wieso identifiziert sich der von seinem Vater entfremdete Sohn mit dessen Jagdleidenschaft, wenn er Frauen ermordet? (Patricia Mazuys »Bowling Saturne« trieb nicht wenige Zuschauer mit einer brutalen Mordsequenz kurz nach Beginn aus dem Kino). Wird es einer taffen Truckerin (Juliette Binoche) gelingen, ein kleines Mädchen aus den Fängen eines Menschenhändlerrings zu befreien? (Anna Guttos »Para­dise Highway«). Was bezweckt die Nonne, die eine ihrer Schülerinnen im obersten Stockwerk des Internats versteckt hält? Ruth Maders »Serviam – Ich will dienen« gefiel durch die Verbindung von Thrillerelementen mit einer Erzählweise, die lange, starre Totalen bevorzugt. Bei ihrem Landsmann Nikolaus Geyrhalter ist dieses tableauhafte Erzählen schon seit längerem Methode, in »Matter Out of Place« erfasst er damit in ebenso nüchternen wie faszinierenden dokumentarischen Bildern die Versuche von Menschen, den von ihnen produzierten Müll zu beseitigen. 

Im zweiten Jahr unter der künstlerischen Leitung von Giona A. Nazzaro profiliert sich Locarno weiterhin durch Nachwuchsförderung und durch Filme aus entlegenen Ländern, die es kaum in die Kinos schaffen werden. Das kommerzielle Standbein und Aushängeschild, die allabendlichen Filme auf der 8 000 Zuschauer fassenden Piazza Grande, blieb dieses Mal ohne wirkliche Spitzentitel. Dafür entschädigte wie immer die Retrospektive, die Douglas Sirk gewidmet war.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt