»Goldener Herbst« – Der deutsche Spielfilm traut sich wieder was und überrascht mit Stil, Ästhetik und Mut zum Genrekino +++
»Geister der Vergangenheit« – Drehbuchautorin Louise Peter zur Genese von »In die Sonne schauen« +++
»Mölln, Kyjiw, Benin« – Aktuelle Dokumentarfilme legen den Finger in alte Wunden, sind ästhetisch und narrativ vielseitig – und hoch politisch +++
Im Kino: Das tiefste Blau | Miroirs No. 3 | Die Rosenschlacht | 22 Bahnen | Kill the Jockey | Das Deutsche Volk | Die Möllner Briefe +++
Streaming: Wednesday Staffel 2 | Alien: Earth | The German + Interview mit Oliver Masucci +++
In diesem Heft
Tipp
Präsente Vergangenheit: Die sechsteilige Dramaserie »Faithless« variiert eine Vorlage von Ingmar Bergman.
Flucht in die Fantasie: »Der Brotverdiener« (2017) erstmals als Mediabook.
Ein Schimmer Hoffnung: Der indische Hit »All We Imagine As Light« mit Bonusfilm.
Jetzt kommt auch ihr Bruder Pugsley ins Internat Nevermore: In der zweiten Staffel des Netflix-Serienhits »Wednesday« ist die unkonventionelle Heldin erneut in sarkastischer Bestform, selbst wenn Tim Burton es mit seinem Horrorzirkus diesmal ein wenig übertreibt.
Heißes Pflaster Hongkong: Schauplatz und Schauwerte machten »Yellowthread Street« zu einer Ausnahmeserie der 80er Jahre.
Das historische Epos »Chief of War«, ein Herzensprojekt von Jason Momoa und Thomas Pa'a Sibbett, zeigt die Geschichte Hawaiis fernab von Klischees.
In »Mels Block« aus der Redaktion »Das kleine Fernsehspiel« gibt es Mut zu Grautönen und überzeugende Charaktere im Rostocker Plattenbauviertel Groß Klein.
Die aufwendige Serienversion »Alien: Earth« gibt dem Franchise spannende neue Impulse. Das Format hat aber auch erzählerische Nachteile: Es zerstört die »konzeptionelle Reinheit«.
Die Schöpfer der Serien »Fauda« und »Teheran« kreieren »The German«, einen Thriller über das traumatische Erbe der Holocaustüberlebenden.
Der rumänische Filmemacher Radu Jude und sein Co-Regisseur Christian Ferencz-Flatz kompilieren in ihrem Essayfilm »Eight Postcards from Utopia« Werbeclips aus der Zeit nach der Ceausescu-Diktatur.
Die Bundeskunsthalle in Bonn würdigt Wim Wenders zum 80. Geburtstag mit der Ausstellung »W.I.M. – Die Kunst des Sehens«.
Eine ambitionierte britische Premierministerin muss sich in »Hostage« mit der französischen Präsidentin zusammenraufen, als ihr Mann entführt wird.
Der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilm von Martina Priessner kreist um ein historisches Ereignis – könnte aber nicht aktueller sein. Inzwischen sitzt eine Partei im Bundestag, die als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft ist; die Zahl rassistisch motivierter Gewalttaten ist zuletzt, ausgehend von einem kontinuierlich hohen Niveau, wieder gestiegen.
Am 4.9. spricht Maxi Braun im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Justine Bauer über Alltag und Zukunftsplanung in der Landwirtschaft und ihren Film »Milch ins Feuer«.
Thema
Mölln, Kyjiw, Benin – Aktuelle Dokumentarfilme legen den Finger in alte Wunden, sind ästhetisch und narrativ vielseitig – und hoch politisch.
Wir prognostizieren: Im Herbst läuft das Kino bei uns zu großer Form auf. Junge Talente neben Etablierten, Episches, Experimentelles, Persönliches, Politisches – opulent oder minimalistisch.
Ein Haus, ein Jahrhundert, vier Frauengenerationen und die Geister der Vergangenheit … Für das epische, preisgekrönte Projekt »In die Sonne schauen« haben zwei Filmemacherinnen eine ganz eigene Sprache erfunden: assoziativ, filigran, traumhaft. Wie entsteht so ein komplexes Geflecht?
Bisher war der Engländer Matt Smith hauptamtlich mit Serien beschäftigt. Als »Dr. Who«, als Daemon Targaryen in »House of The Dragon« und als Prinz Philip in »The Crown« entwickelte er so viel Charisma, dass man ihn gern in der A-Liga sehen möchte.
Meldung
Enno Trebs, wurde 1995 in Berlin geboren. Er studierte von 2016 bis 2020 an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Entdeckt wurde er beim Casting zu »Hände weg von Mississippi«, auch wenn er die Rolle nicht bekam. Seine erste große Rolle spielte er in »Das weiße Band«. Seit 2021 ist er festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin, im Kino war er z. B. in »Köln 75« und »Roter Himmel« zu sehen. Aktuell ist er mit »Miroirs No. 3« im Kino
Oliver Masucci, 1968 in Stuttgart geboren, wuchs der Sohn eines Italieners und einer Deutschen in Bonn auf und feierte erste Erfolge in TV-Serien und besonders im Theater. Von 2009 bis 2016 war er festes Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Einem breiten deutschen Publikum wurde er durch die Verkörperung von Adolf Hitler in David Wnendts Romanadaption »Er ist wieder da« (2015) bekannt, sein internationaler Durchbruch folgte 2017 mit der Netflix-Serie »Dark«. 2021 erhielt er für seine Verkörperung von Rainer Werner Fassbinder in Oska Roehlers Biopic »Enfant Terrible« den Deutschen Filmpreis.
Filmkritik
Jay Roach, der schon früher bösen Spaß mit dysfunktionalen Familienkonstellationen hatte, liefert ein Reboot von Danny DeVitos »Rosenkrieg«, das ganz auf der Höhe der modernen Zeit mit bissiger Komik und emotionaler Tiefe die dunklen Seiten der menschlichen
Existenz auslotet und die Möglichkeiten und Grenzen moderner Beziehungen.
Wie der Jockey Remo mit Verve und vielen Drogen auf den Abgrund zusteuert und sich danach selbst neu erfindet, erzählt der argentinische Regisseur Luis Ortega mit einer Überfülle an visuellem Einfallsreichtum, der genauso in Erinnerung bleibt wie das beeindruckend minimalistische Spiel von Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart.
Der visuell angemessen zurückgenommene Dokumentarfilm gibt den Betroffenen der Anschläge von Mölln 1992 viel Raum und legt ein bisher unbekanntes Kapitel von Behördenversagen offen.
Eigentlich wollte Sarah die Öffentlichkeit über sinistre Machenschaften ihres Arbeitgebers informieren, dann bekommt sie kalte Füße. Und ein temporeiches Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Ein Thriller wie aus dem Lehrbuch; Köpfchen schlägt Fäustchen.
Mutiges Spielfilmdebüt mit einem Feuerwerk an popkulturellen Zitaten, das neue visuelle und narrative Darstellungsweisen für psychische Erkrankungen wagt, ohne diese zu verharmlosen und sowohl die Perspektive der Angehörigen und des Umfelds, als auch der Erkrankten selbst abzubilden versucht.
Minimalistische, aber hochgradig bewegende Sci-Fi-Romanze aus der Ukraine: Ein Mann und eine Frau, die Letzten ihrer Art, weit voneinander entfernt im All; und doch werden sie zueinander hingezogen.
Überdrehte Farce über das Verzeihen in der Liebe und der Freundschaft – mit einem spielfreudigen Ensemble und voller grobem, makaberen Klamauk.
Der neue Film von Christian Petzold, wieder mit Paula Beer, ist ein sommerlich-abgründiges Spiel der Identitäten: Eine junge Pianistin findet nach einem schrecklichen Unfall auf dem Land Aufnahme bei einer Familie, die ein dunkles Geheimnis hütet.
Dieses dokumentarische Porträt über Hannah Arendt schildert anhand von originalem Archivmaterial, wie stark Leben und Werk der berühmten Denkerin mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden waren. Ihre Erkenntnisse über totalitäre Herrschaft und die Gefährdungen der Demokratie haben nicht an Aktualität verloren. Nina Hoss verleiht Hannah Arendt ihre Stimme, mit eingesprochenen Passagen aus deren Schriften, Briefen und Gedichten.
Tausende Kunst- und Kulturschaffende leben bei uns in prekären Verhältnissen. Der Dokumentarfilm porträtiert die auch politisch engagierte Angelika Nain, die trotz ausbleibenden kommerziellen Erfolgs in ihrer künstlerischen Tätigkeit Erfüllung findet.
So berührend diese Geschichte über eine Studentin, ihre kleine Halbschwester, die Alkoholiker-Mutter und komplexe Zukunftsentscheidungen ist, so überfrachtet und wenig originell erzählt kommt sie daher. Getragen wird die Adaption des gleichnamigen Sensations-Bestsellers von Caroline Wahl deswegen vor allem von ihren drei exzellenten Hauptdarstellerinnen: Luna Wedler, Laura Tonke und die kleine Zoë Baier machen die meisten Schwächen von »22 Bahnen« fast wett.
Die mehrtägige Porträtsitzung, die der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz zunächst widerwillig über sich ergehen lässt, wird in dem Kammerspiel von Edgar Reitz und Anatol Schuster zu einem vergnüglichen Kolloquium über Fragen der Kunst und Philosophie.
Die Dokumentarfilmer Michael Dweck und Gregory Kershaw entdecken dem Publikum die majestätisch-schroffen Landschaften der argentinischen Provinz Salta, wo die letzten Gauchos versuchen, sich ihr Handwerk und ihre Kultur zu bewahren. Ein Stück lebendiger, gültiger Folklore.
Sind die Prinzipien, die die Vereinten Nationen vor 40 Jahren proklamierten, noch etwas wert? Der deutsch-schweizerische Dokumentarist David Bernet stellt die Frage nach der Hilfe für Geflüchtete neu. Ein berechtigter Appell, darüber nachzudenken, wie Solidarität heute aussehen sollte.
In diesem Ozon-Film entfaltet sich rund um eine verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung ein Familiendrama plus Mystery, das trotz einer hervorragenden Hauptdarstellerin nicht ganz überzeugen kann.
Ein Fischerdorf wird aus seiner Trägheit aufgeschreckt, als ein homophober Angriff verübt wird. Emanuel Parvu seziert das gesellschaftliche Klima mit dem unerbittlichen Naturalismus, den das rumänische Kino wie kein anderes beherrscht.
Improvisierter Film über einen jungen Musiker, der sich weigert, eine Wohnung zu suchen, und dabei fast unter die Räder kommt. Aus einer filmischen Fingerübung wird ein spitzer Kommentar zur Wohnungsnot in Großstädten.
Mascha Schilinski filtert hundert Jahre deutsche Geschichte durch die Erfahrungen von vier Mädchen und erfindet dabei eine großartige, assoziationsdichte Bildsprache.
Ein Männerpaar in Nordvietnam, beide leben vom Bergbau, aber einer will weg. Minh Quy Truong erzählt in seinem hypnotischen Geisterfilm von individuellen und kollektiven Traumata in einem zerrissenen Land.
Vier Jahre hat Marcin Wierzchowski die Hinterbliebenen der Opfer des Attentats von Hanau begleitet. Der Dokumentarfilm, der von Trauer und Trauma und den Kampf für Gerechtigkeit erzählt, versteht sich selbstbewusst als kinematographische Verlängerung des Hashtags »SayTheirNames«.
Amanda Kims filmisches Porträt wird dem »Vater der Videokunst« Nam June Paik auch ästhetisch gerecht.
In einer dokumentarischen, mitunter kunstlos anmutenden Filmsprache erzählt Scandar Copti von Palästinensern und Israelis in Haifa – und von destruktiven gesellschaftlichen und familiären Prägungen.
Zum dritten Mal beschäftigt sich Dennis Gansel mit Verführung und Verantwortung, Schuld und Gewissen im Zweiten Weltkrieg. Mit fünf Soldaten im Tigerpanzer ringt auch der Zuschauer in Alptraumlandschaften des Krieges und posttraumatischen Horrorvisionen um Orientierung.
Eine junge Frau, die als Stierkämpferin männliches Territorium betritt, bemerkt nach einem Blackout körperliche Veränderungen. Von der Gattung her ein »Rape & Revenge Movie«, verzichtet der Film auf krasse Szenen und setzt auf die eindrucksvolle Landschaft und »Präsenz« der Stiere.
Das dokumentarische Porträt einer geradlinigen Frau, das den im Titel angezeigten Wissenschaftskrieg nur als Hintergrundillustration mitnimmt.
In Five Points, dem aus »Gangs of New York« berüchtigten Viertel im Süden Manhattans, soll eine Schar von Nonnen ein Waisenhaus errichten. Ihre Leiterin Francesca Fabrini trotzt allen Widerständen, überwindet Fremdenhass und Arroganz der Institutionen. Die reale Figur wurde vom Vatikan heilig gesprochen, aber Alejandro Gómez Monteverdes voreiliges Biopic verherrlicht sie schon zu ihren Lebzeiten.
Eine 77-jährige will im Brasilien der nahen Zukunft nicht in die Altenkolonie abgeschoben werden und holt sich mit sympathischer Sturheit die Kontrolle über ihr Leben zurück. Gabriel Mascaro inszeniert eine heiter-gelassene Gesellschaftsdystopie als poetisch-lakonischen Bootstrip durch das Amazonasgebiet.
Mit seinem neuen Film gelingt dem Italiener Gabriele Mainetti ein atemberaubender Genremix aus Kung-Fu-Action und interkultureller Liebesgeschichte.
Zwei ungleiche Brüder treffen in dieser charmanten aber sehr erwartbaren Komödie aufeinander: der herzensgute Sunny mit Trisomie 21 und der skrupellose Immobilienmakler Thomas. Nett anzusehen, aber harmlos.
Zach Cregger etabliert sich als eine der interessantesten Stimmen im Horrorkino. Der Film um das rätselhafte Verschwinden von 17 Kindern entfaltet ein düsteres Panorama einer nur von Verschwörungstheorien zusammengehaltenen Gesellschaft.
Zwar umschifft der Film die Wokeness-Debatten einigermaßen souverän und taugt je nach Geschmack für belangloses Amüsement, aber der alberne, parodistische Humor wirkt doch etwas aus der Zeit gefallen.
Die Fortsetzung des Körpertausch-Klassikers »Freaky Friday« enttäuscht mit allzu bravem Humor und biederer Familientauglichkeit, punktet aber mit vier glänzend aufgelegten Hauptdarstellerinnen, allen voran eine großartige Jamie Lee Curtis.
Akiva Schaffer und seine Drehbuchautoren haben ein ordentliches Reboot der Originaltrilogie hingelegt, das mit der Gagdichte der Originaltrilogie und ihrem abstrusen Humor allerdings nicht mithalten kann. Liam Neeson und sein love interest Pamela Anderson sind aber durchaus Besetzungscoups.