Kritik zu Das Glücksrad

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2021
Original-Titel: 
Gûzen to sôzô
Filmstart in Deutschland: 
01.09.2022
L: 
121 Min
FSK: 
12

Der vorausgegangene Zauber: Ryûsuke Hamaguchis Episodenfilm erhielt im vergangenen Jahr in Berlin den Großen Preis der Jury, wenige Monate, bevor »Drive My Car« in Cannes seinen internationalen Siegeszug begann. Nun kommt der ungleiche Zwillingsfilm in die Kinos – und beweist einen ganz eigenem Charme

Bewertung: 4
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Kann man auf die Magie eifersüchtig sein? Warum sollte man um etwas so Unzuverlässiges buhlen? Das Foto­modell Meiko jedenfalls ist überzeugt, ein Anrecht darauf zu haben. Die magische Zeit, die sie mit ihrem Ex Kazuaki erlebte, ist nur für sie bestimmt; sie steht niemand anderem zu, auch nicht ihrer Freundin, der Maskenbildnerin Tsugumi. Die Intrige, die sie nun spinnt, zieht freilich nicht in Betracht, dass das Verliebtsein noch unberechenbarer ist.

Dieser Tauschhandel der Gefühle steht im Zentrum der ersten von drei Episoden, in denen Ryûsuke Hamaguchi seine ProtagonistInnen ein Rendezvous mit dem Zufall eingehen lässt. In der zweiten will eine verheiratete Studentin ihren gelegentlichen Liebhaber rächen, indem sie dessen Professor eine Liebesfalle stellt. Wird es ihr gelingen, den verschlossenen Mann zu verführen, obwohl dieser stets die Tür seines Büros offen stehen lässt, um Komplikationen zu vermeiden? In der abschließenden Episode hofft eine arbeitslose IT-Spezialistin, beim Klassentreffen ihre verlorene Jugendliebe zur Rede zu stellen. Zufällig begegnet sie ihr bei der Abreise auf dem Bahnhof wieder. Aber was wäre, wenn das gegenseitige Wiederkennen nur ein Irrtum ist?

Mit strenger Leichtfüßigkeit inszeniert Hamaguchi diese moralischen Erzählungen über Begehren, Beredsamkeit und Fantasie. Die Vorsätze scheitern jedes Mal, weil die Gefühle nicht bleiben, wo sie sind: Sie gewinnen einen neuen Zauber. Heute würde man bei dieser Spielart der hintergründigen Liebeskomödie wohl zunächst an Hong Sang-soo denken, aber Eric Rohmers Faible für den Zufall und das Wort erweist sich letztlich als der prägendere Einfluss auf Hamaguchis kunstvolle Miniaturen. Tatsächlich war es dessen Editorin Mary Stephen, die ihm vorschlug, eine Sammlung von Kurzfilmen in Angriff zu nehmen. 

Die Situationen sind äußerlich schlicht konstruiert: Zwei Charaktere reden miteinander – in einem Taxi, Büro oder Wohnzimmer –, und jedes Mal geht der Drehbuchautor und Regisseur eine Wette darauf ein, wie rasch Vertraulichkeit entstehen kann. Die Episoden funktionieren eigenständig, knüpfen mitunter jedoch subtil aneinander an. Das Motiv der an die falsche Adresse gesandten E-Mail im zweiten Segment wird in der Vorgeschichte der dritten variiert, wo ein Computervirus die digitale Kommunikation weltweit aus den Angeln gehoben hat. Und während es in den ersten beiden darum geht, offene Rechnungen zu begleichen, löst sich die dritte Episode bald vom Impuls der Vergeltung.

Hamaguchi hat »Das Glücksrad« vor »Drive My Car« sowie während einer langen, pandemiebedingten Drehpause gedreht: durchaus als Vorübung für den Langfilm – beispielsweise die lange Dialogszene während einer Autofahrt am Anfang –, auf den er auch thematisch verweist. Diese Verbindung zeigt sich etwa in der erotischen Aufladung der Sprache und der Diskussion über die Bedeutung von Namen; die »Venusfalle« in der zweiten Episode hätte auch Oto, die Drehbuchautorin in »Drive My Car«, erfinden können. Auch der Rhythmus der beiden Filme ist nicht so unterschiedlich, wie es ihre jeweilige Form vorgeben müsste: Es bleibt stets genug Zeit, sich auf die Situationen einzulassen.

Im Tonfall unterscheiden sie sich indes. »Das Glücksrad« scheint auf Anhieb der sarkastischere Film zu sein. Hamaguchi agiert als ein gewiefter Fallensteller. Die Intrigen sind mit beachtlicher Hinterlist eingefädelt; Blessuren werden kämpferischer pariert. 

Jedoch sind die unvorhersehbaren Wendungen des Drehbuchs mit liebevoller Sorgfalt konstruiert. Kein Hinterhalt obsiegt, die Masken fallen. Hamaguchis Wette gelingt: Die Intimität stellt sich brüsk und achtsam ein. Seine Figuren begegnen einander mit hinzugewonnener Offenheit. Das Timbre eines Augenblicks wird vom nächsten revidiert, aber nicht verraten. Hamaguchi ist eingenommen von seinen Charakteren und ihrer Verwandlung: Auf diese Magie besitzt jede von ihnen ein Anrecht.

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