arte-Mediathek: »Das Haus im Wald«

»Das Haus im Wald« (Miniserie, 1970). © arte/La Cinetek

© arte/La Cinetek

Gottes vergessene Kinder

Bevor Maurice Pialat 1968 mit dem Spielfilm »Nackte Kindheit« (1968) debütierte, hatte der Autodidakt zahlreiche, meist dokumentarische Kurzfilme gedreht. Manche Filmografen unterschlagen seine Mitwirkung an der TV-Reihe »Chroniques de France« – war ja nur Fernsehen. »Nackte Kindheit« wurde erst im zweiten Schritt zu einem Spielfilmprojekt. Ursprünglich hatte Pialat einen Dokumentarfilm geplant über ein Fürsorgekind, das seine wechselnden Zieheltern überfordert. Ein »Systemsprenger«. Das Skript basierte auf der Biografie eines Jungen namens Didier, im Film François, dargestellt von Michel Terrazon. Marie-Louise und René Thierry, die über die Jahre sieben elternlose Kinder aufgenommen hatten, spielten sich selbst. Semidokumentarisch.

Vor seinem nächsten Kinofilm inszenierte Pialat dann die TV-Serie »Das Haus im Wald« nach Drehbüchern von René Wheeler, dem Koautor von Rififi. In »Das Haus im Wald«, nun auf arte zu streamen, begegnen wir erneut dem jungen Michel Terrazon, der in seiner Rolle den eigenen Vornamen trägt. Wieder – und nicht zum letzten Mal – befasst sich Pialat mit dem Thema Adoleszenz, hier eingebettet in eine Dorfgeschichte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Michel, Hervé und Bébert wachsen zeitweilig ohne ihre leiblichen Eltern auf. Sie wurden aus dem von Deutschen bombardierten Paris aufs Land geschickt und beim Wildhüterehepaar Picard in Pflege gegeben.

Im Dorf wurde eine Bürgerwache eingerichtet, nahebei befindet sich ein Militärflugplatz. Das Kampfgeschehen als solches kennt man ansonsten nur aus Berichten. Für die Jungs Inspiration zu übermütigen Kriegsspielen. In der weitläufigen Natur können sie sich unbeschwert austoben.

Für Hervé liegen die Dinge nicht so leicht. Seine Mutter hat die Familie verlassen, sein Vater ist an der Front. Er geht leer aus, wenn die Post verteilt wird, bleibt allein, wenn die Mütter der anderen am Wochenende zu Besuch kommen. Mit der Zeit wird der vernachlässigte Junge widerspenstig, aber durch die Zuwendung der liebenswürdigen Picards und deren älterer Tochter Marguerite aufgefangen. In dem eleganten Marquis de Fresnoy, Albert Picards Arbeitgeber, findet Hervé einen erwachsenen Freund. Und Fresnoy umgekehrt Trost, denn er hat gerade seine Frau durch einen Unfall verloren. Der Tod bleibt kein Fremder in dieser Erzählung und das Dorf nicht vom Krieg verschont.

Typen treten auf wie der schrullige Küster, der gern den Messwein süffelt, der hemdsärmelige Wirt, ein schneidiger Flieger, ein schlitzohriger Wilderer. Immer bleibt Zeit für ein kleines Gläschen. Die Lümmel verüben Streiche, wochenends geht es zum Picknick, einmal pro Woche ist Badetag mit Zuber und Gießkannendusche. Den Unterricht leitet ein erstaunlich nachsichtiger Lehrer, der wenig gemein hat mit den autoritären Vorkriegspaukern, wie zum Beispiel Erich Maria Remarque sie beschrieb. Bedeutsam: Maurice Pialat selbst spielt diese Rolle.

Realismus trifft auf Wunschvorstellung, harte Kriegswirklichkeit auf bukolisches Idyll. Kein Drill, keine Schläge für die Kinder. Ein grundgütiger Gutsherr und stets blütenweiße Kleider, selbst bei der Hofarbeit. Unter Pialats behutsamer Regie agieren Laiendarsteller wie Profis lebendig und unverstellt wie Protagonist*innen eines Dokumentarfilms. Laut eigenen Worten lehnte Pialat Improvisationen ab, doch ist kaum vorstellbar, dass jede Geste, jedes Detail vorgezeichnet war.

Das Erzähltempo entspricht dem Alltag eines kleinen Dorfes zwischen 1914 und 1918. Beschaulich, aus heutiger Warte vielleicht gewöhnungsbedürftig wie die weiche Charakteristik des Filmmaterials, vermutlich im 16-mm-Format. Eine Übung zum genauen Hinsehen. Auch Referenzen finden sich. Hervé bekommt vom Marquis Charles Dickens' »Der Raritätenladen« geschenkt. Sicher keine zufällige Wahl.

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