Kritik zu Vermiglio

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dem Grand Prix ausgezeichneten Film nimmt Regisseurin Maura Delpero den Zuschauer mit in ein italienisches ­Bergdorf im Jahre 1944. Von dort aus entfaltet sich eine komplexe ­Familiengeschichte, bei der ­innere und äußere Konflikte die Wucht klassischer Dramen ­annehmen

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Das Kino als Kältekammer. Das italienische Bergdorf Vermiglio in der Region Trient befindet sich im Jahr 1944 in der unbarmherzigen Umklammerung des Winters. In Maura Delperos Film »Vermiglio« vermitteln die Bilder von Kameramann Mikhail Krichman einen Eindruck der meteorologischen Verhältnisse. Der Zuschauer friert mit. Delpero (49), die 2019 mit dem Film »Maternal« bekannt wurde, erzählt eine komplexe Familiengeschichte zu Zeiten des bald endenden Weltkriegs. Dessen Gegenwart ist in dem auf einer Höhe von 1260 Metern liegenden Dorf kaum spürbar – bis der Deserteur Attilio (Santiago Fondevila) nach Vermiglio zurückkehrt. Begleitet wird er von seinem sizilianischen Kameraden Pietro (Giuseppe De Domenico). Die Ankunft der Männer verändert die Beziehungsdynamik im Dorf, erst recht die Dynamik innerhalb der Großfamilie Graziadei; deren Oberhaupt Cesare (Tommaso Ragno) ist Attilios Onkel.

Delperos (Buch und Regie) Film, der 2024 den Silbernen Löwen beim Festival in Venedig gewonnen hat, ist eine Hommage an ihren verstorbenen Vater. Ragno verkörpert den Lehrer Cesare mit dem Habitus eines strengen, anspruchsvollen, keinen Widerspruch duldenden Erziehers: ein Patriarch wie aus Granit. Und ein Mann, der sich regelmäßig aus der Welt und der häuslichen Unruhe (seine Frau hat zehn Geburten absolviert) allein in sein Arbeitszimmer zurückzieht und Platten mit der Musik von Schubert, Chopin und Vivaldi auflegt: ein Luxus in schwierigen Zeiten. Cesare betrachtet Musik als »Nahrung für die Seele«. 

Der dörfliche Pater familias widmet sich gelegentlich noch einem weiteren privaten Vergnügen, das er wie ein Geheimnis hütet. Geheimnisse tragen fast alle der Filmfiguren mit sich herum. Aus ihnen erwachsen innere Konflikte und äußere Konfrontationen. Dabei folgt die Welt in »Vermiglio« eigentlich dem ewigen Rhythmus der Jahreszeiten. Die Kamera nimmt die Rituale des Alltags ruhig und konzentriert auf: wenn zum Beispiel das Leben im Haus und die vielköpfige Kinderschar erwachen oder wenn die Kühe gemolken werden. Schulstunden, gemeinsames Essen, Kirchenbesuche, Beichte, Buße und Gebete sowie lokale Bräuche wie die Feier der Santa Lucia, der »Botin des Lichts«, entfalten sich ohne jede dramaturgische Hektik. Die Genreszenen erscheinen im Film im Stil kunstvoll komponierter Tableaus. Winter in Vermiglio spiegelt sich in eingefroren anmutenden Landschaftsgemälden. 

Fast schon behutsam führt Delpero die großen Themen der Kunst in die italienische Bergwelt ein. Danach geht sie allerdings keiner noch so bewegenden Wendung aus dem Weg. Liebe, Betrug und Tod spielen ebenso eine Hauptrolle wie individuelle Hoffnungen und Enttäuschungen und der brutal ausgestaltete Antagonismus zwischen Vater und Sohn, Cesare und Dino. Patrick Gardner verkörpert Dino im rebellischen James-Dean-Modus. Die Töchter Ada (Rachele Potrich), Flavia (Anna Thaler) und Lucia (Martina Scrinzi), die sich ein Zimmer teilen, lernen mit gewitzten Sinnen die Welt kennen (Ada), entdecken ihre Sexualität (Flavia) und die Liebe (Lucia). Roberta Rovelli als Mutter Adele hält wie ein Manager ohne Feierabend die Fäden zusammen. 

Das Dorf steht in »Vermiglio« für einen Kosmos der Tradition und für einen Aufbruchsort. Ada und Flavia träumen beide vom Schulbesuch in der Stadt, aber nur für eine von ihnen kann sich der Traum erfüllen. Lucia gibt ihrem Leben nach der Begegnung mit Pietro eine eigenwillige neue Richtung, existenzverändernde Überraschung inklusive. Verwurzelung und Veränderung prägen das Miteinander in der Familie Graziadei. Der sich oft tränenreich vollziehende Prozess der Loslösung wirkt maßgeblich auf die Person des Patriarchen Cesare zurück. Es werden Risse im Granit sichtbar, Cesare offenbart fast schon weich zu nennende Züge. Er ist immer dann ganz er selbst, wenn er der versammelten Dorfschülerschaft (darunter die eigenen Kinder) Kenntnisse vermittelt – und immer wieder den Wert von Musik. In »Vermiglio« lernen schon die Kleinsten, was Interpretation, lento und lentissimo bedeuten.

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