Kritik zu The Life of Chuck

© Tobis Film

Wer ist Chuck? Überall poppen Poster, Plakate und Projektionen mit dem Bild eines Mannes auf, den niemand kennt. »Thank you, Chuck, for 39 Years« steht da geschrieben. Ein Jedermann – ganz groß

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Es heißt ja immer, dass jeder Regisseur, der etwas auf sich hält, zumindest ein Werk von Stephen King verfilmen müsse. Mike Flanagan hat schon mehrere adaptiert, und nach »Das Spiel« und »Doctor Sleep« plant er, mit »Carrie« und »Der Turm« weitere Klassiker des Autors seriell neu zu verfilmen. Dabei konzentriert er sich stärker auf Gefühle und Charaktere als auf cheap thrills und jump scares. Das gilt erst recht für »The Life of Chuck«, einen Film, in dem es zwar übersinnliche Aspekte gibt, in einem unheimlichen, verbotenen Zimmer unter dem Dach einer Villa, der aber sonst einen eher lebensphilosophischen Ansatz hat: Was bleibt von einem Leben, das zu früh endet?

Chucks Leben wird vom Ende her aufgerollt, das mit dem Ende der Welt zusammenfällt. Es beginnt in einem kleinen amerikanischen Provinzstädtchen im Schulunterricht, in dem Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor) den Schülern gerade Walt Whitmans »Song of Myself« nahezubringen versucht, insbesondere den Satz »I contain multitudes« (etwa: »Ich trage viele Wesen in mir«), den auch Bob Dylan 2020 im gleichnamigen Song aufgenommen hat. Da breitet sich im Klassenraum Unruhe aus, Handynachrichten von einer Katastrophe machen die Runde, halb Kalifornien sei im Wasser versunken, einfach abgebrochen und weggespült. 

Es folgen Meldungen über den überfluteten Mittleren Westen und einen Vulkanausbruch in Deutschland. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis Bildschirme dunkel werden, Fernsehnachrichten abbrechen, in Krankenhäusern die Vitalwerte-Monitore piepend verrückt spielen und Autos mitten auf der Straße stehen bleiben. Irgendwann gehen auch die letzten Lichter aus. Im Vergleich mit klassischen Apokalypse-Erzählungen verläuft hier alles eher gewaltfrei und unblutig. Es geht weniger um den Thrill der Ereignisse als darum, was das für die Menschen bedeutet, die sich fragen, mit wem sie die letzten Minuten verbringen möchten. Und das auf eine seltsam unaufgeregte Weise. Es ist eine Art Feelgood-Weltuntergang. Während Lehrer Marty seiner Ex-Frau Felicia in die Arme läuft, wundern sich alle über die überall auftauchenden Botschaften über Chuck, auf Billboards gedruckt, im Fernsehen gesendet, von Flugzeugen in den Himmel gemalt und schließlich nach dem Blackout auf Fenster projiziert.

Während sich die Menschen noch fragen, wer dieser Chuck nun ist, der wie ein durchschnittlicher Buchhalter aussieht, begleiten wir ihn im nächsten Filmkapitel an einem ganz normalen Tag, an dem er – wie eine sonore Offstimme (Nick Offerman) protokolliert – nicht ahnt, dass er nur noch weniger als ein Jahr zu leben hat. Wie von magischer Hand an unsichtbaren Marionettenfäden gezogen, wird Chuck von den Trommelklängen einer jungen Straßenmusikerin (Taylor Gordon) in Bewegung versetzt. Ohne zu wissen, wie ihm geschieht, stellt er sein Aktenköfferchen zusammen mit der kleinbürgerlichen Spießigkeit auf dem Boden ab und beginnt, sich in einer Mischung aus Jazz-, Swing-, Samba, Cha-Cha-Cha-, Bossa-Nova-Schritten und Michael Jacksons »Moonwalk« auf eine mitreißend elegante Weise zu bewegen, die es mühelos mit den größten Musicalmomenten von Fred Astaire aufnehmen kann. Von Tom Hiddleston in fließenden Bewegungen und völlig befreit vom »Loki«-typischen Zynismus aufgeführt, ist diese Szene der magische Kern von »The Life of Chuck«. Alle verpassten Chancen eines Lebens fließen in diesen euphorisierenden Moment. 

Wie Chuck, und mit ihm jeder Mensch, enthält auch der Film »multitudes«, er ist zugleich rätselhaft fiktives Biopic, entspannter Katastrophenfilm, Coming-of-Age-Erzählung, melancholische Liebesgeschichte und magisches Musical. Nicht immer ganz schlüssig ausbalanciert, aber immer wieder berückend, klinkt sich der Film drei Mal ins Leben von Chuck ein: einige Monate vor seinem Tod, in der Jugend, in der er seine Großmutter verliert, und in der Kindheit, in der er zum Waisen wird und sich dem schmächtigen Jungen durch das Tanzen neue Welten eröffnen.

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