02/2024

»Traum trifft Trauma« – Mit »All of Us Strangers« kehrt Andrew Haigh, bekannt als Regisseur von »Weekend« und »45 Years«, erfolgreich zu seiner sehr persönlichen Art des Filmemachens zurück. Ein Porträt +++ 

»Ist es jemals vorbei?« – Die Verbrechen der deutschen Kolonialgeschichte waren im Kino lange tabu. Georg Seeßlen rekapituliert die Entwicklung des kolonialistischen Filmblicks auf Afrika von früher Exotisierung bis heute +++ 

»Im besten Alter« – Dominik Graf, Hans-Christian Schmid, Andreas Dresen und Julia von Heinz erinnern sich an prägende Filme, Trends und Ereignisse der letzten vier Jahrzehnte +++ 

Im Kino: Green Border & Interview Agnieszka Holland | Geliebte Köchin mit Juliette Binoche | Die Farbe Lila | Schock | Die Ausstattung der Welt +++

Streaming: Sexy Beast | True Detective | Balenciaga +++

In diesem Heft

Tipp

In seiner epischen Serie »Masters of the Air« schildert Produzent Steven Spielberg mit viel Aufwand den Einsatz der Piloten der 100th Bombardement Group, einer legendären Einheit der US Air Force, im Zweiten Weltkrieg.
Urteilsfindung auf eigene Faust: In der australischen Serie »Nach dem Prozess« gehen Geschworene drolligen Ermittlungen nach.
Mit Bayard Rustin wird in diesem Biopic ein verkannter Held der Bürgerrechtsbewegung gewürdigt. Er wird gespielt vom Star der Stunde Colman Domingo (»Die Farbe Lila«).
Das Serien-Prequel zu »Sexy Beast«, Jonathan Glazers Kultfilm aus dem Jahr 2000, beleuchtet das Vorleben von Gal und Don und geht dorthin, wo es wirklich wehtut.
Mit der fünften Staffel kehrt »Fargo« zu den Ursprüngen im nördlichen Midwest zurück und macht erstmals explizit Gewalt gegen Frauen zum Thema.
In rund zweieinhalb Stunden unternimmt die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland eine Reise ins Herz der Finsternis. Sie illustriert die Folgen einer menschenverachtenden Flüchtlingspolitik.
Befreiungsschlag im eisigen Dunkel: Mit »Night Country« erfindet sich das »True Detective«-Format neu, nicht nur weil diesmal Frauen ermitteln.
Unheimliche Heime: In »The Woman in the Wall« geht es um das traumatische Erbe der Magdalenenheime.
Mit »Letzter Abend« hat Lukas Nathrath einen ungewöhnlichen Debütfilm vorgelegt, der nach kurzem Kinostart nun als VoD zur Verfügung steht.
Die arte-Eigenproduktion »Hafen ohne Gnade« vereinigt den Pessimismus des Film noir mit der Wucht biblischer Legenden.
Die Miniserie »Cristóbal Balenciaga« erzählt vom Leben und Werk des baskischen Modeschöpfers, der nicht nur mit seinen Etuikleidern als prägend für die west–europäische Kultur der Nachkriegsära gilt.
Donald Glover und Maya Erskine sind zwar die neuen »Mr. & Mrs. Smith«, kommunizieren aber anders als Angelina Jolie und Brad Pitt im Film von 2005 nicht über Action miteinander, sondern – oh Wunder – per Gespräch.
Die Perspektive der Ignoranz: Lulu Wangs feinfühlig inszenierte Miniserie »Expats« mit Nicole Kidman thematisiert die Regenschirmproteste in Hongkong.
Zwischen zwei Berlinale-Filmen lohnt sich ein Abstecher zur Ausstellung »Filmplakate aller Zeiten«. Die Auswahl der Objekte reicht vom hoch künstlerischen 20er-Jahre-Design bis zur digitalen Gegenwart.
Am 25.2. spricht Ulrich Sonnenschein im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Aylin Tezel über ihren Film »Falling Into Place«.
Kino all' arrabbiata: Die wilden Zeiten des italienischen Kriminalfilms.
Diskrete Forschung: Über den Dokumentaristen Frederick Wiseman.
Deutsche Sci-Fi-Pionierarbeit: Die Fernsehserie »Raumpatrouille Orion« als 4K-Restaurierung.
Erinnerung an alte Kinozeiten: Der Cinerama-Film »Die Wunderwelt der ­Gebrüder Grimm« aufwendig restauriert.
Der Mann in der Rüstung: Disney bringt Serien wie »The Mandalorian« nun auch physisch heraus.
Eine Sammlung von achtzehn Klassikern und Raritäten des Film noir gewährt einen Überblick über wiederkehrende Motive des Genres, enthält aber auch Ausnahmeerscheinungen.

Thema

Dominik Graf, Hans-Christian Schmid, Andreas Dresen und Julia von Heinz erinnern sich an prägende Filme, Trends und Ereignisse der letzten vier Jahrzehnte.
Mit »All of Us Strangers« kehrt Andrew Haigh, bekannt als Regisseur von »Weekend« und »45 Years«, erfolgreich zu seiner sehr persönlichen Art des Filmemachens zurück. Ein Porträt.
Die Verbrechen der deutschen Kolonial­geschichte waren im Kino lange tabu. Georg Seeßlen rekapituliert die Entwicklung des kolonialis­tischen Filmblicks auf Afrika von früher Exotisierung bis heute.
Lupita Nyong'o legte mit dem Oscar für »12 Years a Slave« einen Karriere-Blitzstart hin. Inzwischen hat sie in Blockbustern gespielt, macht Theater, produziert. In diesem Jahr ist sie Präsidentin der Berlinale-Jury – ohne den typischen Arthouse-Background und als erste Schwarze Person auf diesem Posten.

Meldung

Adrian Goiginger, 32, Regisseur und Drehbuchautor aus Österreich, machte Furore mit seinem ersten Langfilm »Die beste aller Welten« (2017). Es folgten »Märzengrund« und »Der Fuchs«. Am 1.2. startet »Rickerl«.
Die diesjährige Berlinale-Retrospektive ist ein bisschen erklärungsbedürftig. Kein Wunder, denn es geht um sehr außergewöhnliche deutsche Filme.

Filmkritik

Der Arzt Bruno hat wegen Drogenkonsums seine Approbation verloren und versorgt Kriminelle und gesellschaftliche Randgestalten. Als er einen leukämiekranken Mafioso behandelt, mit dem sein Schwager eine Rechnung offen hat, eskaliert die Situation. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto setzen mit ihrem düsteren, zwischen Ruhe und Gewalt changierenden Film ein Ausrufezeichen im deutschen Genrefilm.
Unter den vielen Vater-Sohn-Geschichten nicht nur deshalb eine besondere, weil Voodoo Jürgens sie mit großartigen Songs über den Durchschnitt hinweghebt, sondern vor allem, weil Goiginger weiß, wie man berührt, ohne kitschig zu sein.
Feuerland, 1801: Im Auftrag des Patrón suchen drei Männer nach einem Viehtreck; in Wahrheit »säubern« sie das Land von »Indianern«. Mit dem Völkermord an den Selk'nam adressiert Gálvez ein unbequemes Kapitel der chilenischen Kolonialgeschichte und setzt es mit formaler Meisterschaft als Historien-Western in Szene.
Stimmungsvoll, effektiv und anrührend gerät Regisseur Leiv Igor Devold die Geschichte über einen jungen Polen, der zum Geldverdienen nach Norwegen kommt und dort zu seiner Homosexualität stehen lernt, auch dank überzeugender Darsteller- und Kameraleistungen.
In der Jugendliteratur boomen Geschichten über queere Teenager schon seit längerem, nun schwappen sie auch zusehends auf Leinwände und Bildschirme. Diese in den 1980ern angesiedelte Romanverfilmung von Aitch Alberto setzt längst nicht so sehr auf Feelgood-Utopie wie »Heartstopper«, erweist sich aber trotzdem als charmant und rührend. Weswegen man ihr auch nachsieht, dass Inszenierung, Schnitt und Drehbuch in nicht wenigen Szenen ein wenig unbeholfen oder schlicht wirken.
Ganz ohne auf die Schockeffekte der Gräueltaten zu setzen, dokumentiert Matthias Freier eindrücklich und visuell geschickt die Arbeit der Ermittlerin, die den Säurefassmörder überführte.
In rund zweieinhalb Stunden unternimmt die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland eine Reise ins Herz der Finsternis. Sie illustriert die Folgen einer menschenverachtenden Flüchtlingspolitik.
In seinem Regiedebüt führt Christopher Doll weiter, was er zuvor schon als Produzent der Filme von Karoline Herfurth vertreten hat: Seine Verfilmung der realen Aussteigergeschichte, die Wolf Küper im gleichnamigen Buch reflektiert hat, ist ein emotionales, magisches und komisches Kinoabenteuer mit gesellschaftlicher Sprengkraft.
Andrew Haighs neuer Film wirft Rätsel auf. Nur vier Figuren genügen ihm, um existenzielle Fragen zu stellen, darunter jene, auf welcher Realitätsebene wir uns gerade befinden. Aus dem Schillern zwischen Geisterfilm und queerer Romanze schöpft er eine ungekannte emotionale Eindringlichkeit. Im Kern ist der Film eine elegische Variation über Themen, die den Regisseur bereits im bahnbrechenden »Weekend« umtrieben.
Update des gleichnamigen DDR-Kinderfilmklassikers: Nach dem Tod eines Rummelplatzbesitzers müssen sich dessen Töchter zusammenraufen und überlegen, ob sie das Geschäft des Vaters weiterführen wollen. Die eigentlichen Stars des Films sind drei zum Leben erweckte Geister, die lustvoll Chaos anrichten. Der erste Kinderfilm von Thomas Stuber funktioniert mit Slapstickeinlagen und dem Nachdenken über Verantwortung.
Bei der Reise ihres Schwarms ins südliche Winterquartier stellen sich einige junge Falter ihren Unzulänglichkeiten und akzeptieren diese schließlich, durch ihre Erfahrungen zu neuem Selbstbewusstsein gereift. Animationsfilm, der sich »selfempowerment« für Jüngere charakterisieren lässt, dabei aber zu sehr auf altvertraute Muster setzt.
Tran Anh Hung erzählt von der Leidenschaft, die ein legendärer Feinschmecker und seine Köchin teilen. Sie ist nicht verzehrend, sondern delikat. Juliette Binoche und Benoit Magimel stehen im Zentrum eines exquisiten Ensembles, das dem Genuss frönen darf. In Cannes wurde der Film mit einem Regiepreis ausgezeichnet, der nicht unverdient ist: ein Augenschmaus, der die Geschmacksnerven anregt.
Für Pinguinfans wird im vermeintlichen Sequel zu »Die Reise der Pinguine« von 2005 eher wenig geboten, dafür sind die Bilder der Reise von den Anden über Feuerland in die Antarktis von erhabener Schönheit. Man wünschte nur, sie würden nicht wahlweise von einem esoterisch verquasten Voice-over zugequatscht oder von pathetischer Musik unnötig verdoppelt.
Vom Buch zum Film zum Musical und nun zurück auf die Leinwand: Die bewegende Erzählung von Alice Walker wird in all diesen Transformationen nur immer stärker und mitreißender. Im herausragenden Ensemble beeindrucken vor allem Fantasia Barrino in der Rolle der Celie und Colman Domingo in der des »Mister«.
Tina Sattler inszeniert die Verhaftung der Whistleblowerin Reality Winner nach den Originalaufzeichnungen des FBI und kreiert einen hoch spannenden Mix aus dokumentarischer Rekonstruktion und filmischer Interpretation, der die manipulativen Verhörtaktiken des FBI offenlegt.
Ästhetisch ist dieses Animationsabenteuer über die Heldinnenreise eines Oktopusmädchens oft überwältigend, doch die unausgegorene Handlung und das sprunghafte Timing verderben den Spaß an dieser Adaption einer kultigen Graphic Novel.
Herzerwärmendes, manchmal etwas dick aufgetragenes Drama um eine späte Liebe, die in der Familie des älteren Mannes schlummernde Traumata und Konflikte aufbrechen lässt – vor der idyllisch-rauen Kulisse von Achill Island.
Der opulente Bilderteppich schlägt einen Bogen von der Erfindung der Fotografie bis zur Inflation des Visuellen im Internet, bleibt dabei aber in der theoretischen Einordnung blass.
Das vielschichtige Porträt des belarussischen Exilpolitikers Andrei Sannikov wirft ein neues Licht auf den Ukrainekrieg.
Was eine überdrehte »E.T.«-Farce hätte werden können, gestaltet Marc Turtletaub als Komödie mit Tiefgang: ein ebenso anrührendes wie amüsantes Drama über einsame alte Menschen.
Edwin, Moderator einer Wissenschaftssendung für Kinder, rutscht in eine Midlife-Crisis, als ein jüngerer Doppelgänger seine Show übernehmen soll. Aus den Resten einer abgestürzten Raumkapsel will er eine Rakete bauen. Colin West macht in seinem sympathischen Independent-Film eine spleenige Welt auf, irgendwo zwischen »Donnie Darko«-Vibes und Steven Spielberg.
Die Pointen sind teils wörtlich noch die alten, die Musik ist wenig einprägsam und die Neubesetzung mit Renée Rapp und Angourie Rice kommt an das Ensemble um Lindsay Lohan und Rachel McAdams im Original von 2004 nur in Ausnahmen ran. Eine verpasste Chance.
Ein untertouriger Thriller aus dem Milieu der russischen Oligarchen in Deutschland. Dito Tsintsadzes neuer Film ist auch eine etwas andere Form der Komödie, die die Erwartungen unterläuft und doch spannend bleibt.
Eine Abenteuerkindheit in der Wildnis wird zum Kindheitstrauma, ein Widerspruch, den die erwachsene Helena (Daisy Ridley) nur in der gefährlichen Konfrontation mit ihrem Vater (Ben Mendelsohn) auflösen kann. Großartige Schauspieler, sinnliche Marschlandschaften, eine vielstimmige Soundscape machen ein paar dramaturgische Schwächen gegen Ende verzeihlich.
Überwiegend dokumentarisch, doch auch mit fiktionalen Elementen erkunden Susanne Weirich und Robert Bramkamp drei große Requisitenfunden, etwa beim Studio Babelsberg. Eine faszinierende Reise in die Welt der Dinge, die Spielfilmsets real wirken lassen, und ihre oftmals rätselhafte Geschichte.
Isa Willingers Dokumentarfilm zum Thema Plastik skizziert ohne verbalen Kommentar mehrstimmig Geschichte und beängstigenden Status Quo, gibt aber auch Ausblicke in eine mögliche petrochemiefreie Zukunft.
Das einfallsreich hybrid in Szene gesetzte politische Porträt eines Künstlers, dessen agitatorischer Kampf gegen Nazis und Reaktion vom Drehbuch deutlich mit dem Heute kurz geschlossen wird.
Dave (David Oyelowo) ahnt nichts vom Doppelleben seiner Frau Emma (Kaley Cuoco) als internationale Auftragskillerin, bis ihre Identität auffliegt und sie sich nach Berlin absetzt. Weit weniger überraschend ist, was diese schematische Actionthrillerkomödie daraus macht.

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