Berlinale-Retrospektive: Interview mit Rainer Rother

Den Kanon sprengen
Rainer Rother (2018). Foto: Marian Stefanowski

Rainer Rother (2018). Foto: Marian Stefanowski

Die diesjährige Berlinale-Retrospektive ist ein bisschen erklärungsbedürftig. Kein Wunder, denn es geht um sehr außergewöhnliche deutsche Filme

Rainer Rother, was war die Grundidee der diesjährigen Retrospektive: der Impuls, eine Gegengeschichte zu schreiben? Oder die Gelegenheit, Restaurierungen zu präsentieren, die im Archiv schlummern?

Rainer Rother: Die Grundvoraussetzung war, dass für alle Berlinale-Sektionen Einsparungen vorgenommen werden müssen. Für uns hat das besondere Schwierigkeiten gebracht, weil bei den Filmen der anderen Sektionen die Untertitel von den Einreichern bezahlt werden, wir sie aber aus unserem Budget bezahlen müssen. Wir haben überlegt: Wenn wir sparen müssen und weniger Filme zeigen können, was ist da eine sinnvolle Antwort? Also entschieden wir, auf den Bestand des Archivs zurückzugreifen, den wir in den letzten Jahren restauriert, digitalisiert und englisch untertitelt haben. Das Thema ergab sich aus einem Schwerpunkt unseres Hauses: Filmen, die nicht zum Kanon gehören. Es hat sich bundesweit herumgesprochen, dass wir uns für Underground, Dokumentarfilm et cetera interessieren.  

Weshalb dieser Zeitraum, 1960 bis 2000? Er beginnt noch vor dem Oberhausener Manifest und umfasst dreißig Jahre geteiltes Deutschland sowie zehn Jahre Wiedervereinigung. 

Wir hatten zuerst überlegt, uns erneut mit dem Kino der Weimarer Republik zu beschäftigen, weil wir da über viele Filme verfügen, die man unter dem Label »Anderes, unabhängiges Kino« präsentieren kann. Wir hatten auch Ideen zur Zeit des Nationalsozialismus, wo es eben doch kleine Firmen gab, die ungewöhnliche Filme – etwa von Frank Wisbar – produziert haben. Aber das sprengte den Rahmen der Vorführmöglichkeiten und das Budget. Dieser Zeitraum schien uns interessant in seiner Vielfalt filmischer Positionen. Er war uns auch vertraut, weil wir ihn schon einmal bei der Retrospektive »Selbstbestimmt – Perspektiven deutscher Filmemacherinnen« von 2019 in den Blick gefasst hatten. Wir mussten dann nur einen Anfang suchen – und den haben wir mit zwei ungewöhnlichen Filmen, »Tobby« und »Zwei unter Millionen«, gefunden. 

Ist diese Retrospektive vor allem eine Entdeckungsreise oder entwickelt sie eine andere Mentalitätsgeschichte? Es geht ja häufig um Außenseiter und alternative Lebensweisen. 

Was das Filmische angeht, ist es ein Ausflug in den nichtkonventionell erzählenden Film. Es ist deutlich, dass klassische Dramaturgien für diese Filmemacherinnen und Filmemacher keine Rolle spielen: Die traditionellen Spannungsbögen funktionieren für diese Geschichten nicht. Was sie erzählen wollen, verbindet sich sehr oft mit eigenen Erfahrungen, mit den eigenen Lebenswelten, die nur auf diese Weise präsentiert werden können. 

Mir fiel auf, dass oft Filmemacher in den Arbeiten anderer auftreten. Fand ein reger Austausch statt? 

Ja, den gab es. Ich glaube, das liegt an verschiedenen Faktoren. Einer davon ist die DFFB, die Berliner Filmschule, aus deren Umfeld einige Leute kommen. Dann spielt da auch eine queere Community eine Rolle oder ein Kontext wie die Hamburger Filmemacher-Kooperative. 

So viele Dokumentarfilme liefen wahrscheinlich noch nie in einer Berlinale-Retro. 

Das ist auch ein Effekt der Schwerpunktsetzung auf Lebensentwürfe und sich ändernde gesellschaftliche Umstände, denn die sind dokumentarisch oder essayistisch oft am besten zu bewältigen. 

Was waren für Sie die großen Entdeckungen?

Ich finde die zwei Filme von Peter Welz (Banale Tage) und Helke Misselwitz (Herzsprung) sehr spannend, die in den letzten Tagen der DEFA entstanden sind. Das war eine Phase, in der die DEFA eine neue Leitung hatte und es klar war, dass dieses riesige Studio nicht auf ewige Zeit so weitergeführt werden konnte. Da wurden plötzlich Projekte möglich, die vor 1989 nie eine Chance gehabt hätten, weil sie viel zu experimentell, zu sperrig und vor allem viel zu nah an der Realität waren. Sie konnten sich alle Freiheiten nehmen und hätten damit vielleicht auch vor 1989 reüssiert, wären in der DDR vielleicht eine Sensation gewesen. Aber nach 1990 waren sie für das Publikum nicht mehr interessant. Es war so viel im Umbruch, dass diese ästhetische Neuerung nicht mehr als wichtig empfunden wurde. Wenn man die Filme heute sieht, haben sie unheimliches Potenzial, denn sie artikulieren sich in einer enormen filmischen Freiheit. 

Wann wurde das letzte Mal bei einer Berlinale-Retro eine Zelluloidkopie vorgeführt?

Im letzten Jahr. Wir haben eigentlich immer 35-mm-Kopien dabei; dies ist das erste Mal, dass wir das aus finanziellen Gründen nicht können. Ich würde im nächsten gern wieder Filmkopien zeigen, aber man muss sehen, wie sich das Festivalbudget entwickelt. Digitale Restaurierungen sind der Standard geworden, auf Film wäre das für uns als In­stitution nicht bezahlbar. Die Studios wählen ebenfalls sehr genau aus, welche Filme sie noch auf 35 mm restaurieren. Ein Technicolor-Film mit drei Farbstreifen ist auch für die Hollywood-Majors viel zu teuer. 

Bevor Sie 2006 Künstlerischer Direktor der Kinemathek wurden, haben Sie das Berliner Zeughauskino geleitet, wo Sie aufsehenerregende Filmreihen zeigten. Wie waren ihre ersten Eindrücke in diesem Haus – womöglich die einzige Kinemathek, die kein eigenes Kino hat? 

Das war eine Institution, die damals »Filmmuseum Berlin« hieß, aber bereits seit zwei Jahren vom Bund finanziert wurde – und nun auch noch das Fernsehen hinzunahm. Wir fragten uns: Wie können wir diese Identität in Worte fassen? Die Entscheidung für »Deutsche Kinemathek« fiel, weil der Begriff allumfassend ist. »Museum für Film und Fernsehen« kam hinzu, weil es ein Museum mit einem Archiv ist, das auch Filmreihen ausrichten soll. Neben zahlreichen Sonderausstellungen haben wir nach Möglichkeiten gesucht, Filme auch außerhalb der Retro zu zeigen. Daraus entstand etwa die Reihe »Filmspotting« im Arsenal. Und wir haben Beziehungen geknüpft, zum Zeughaus und Bundesplatzkino, und haben für Kommunale Kinos Reihen zusammengestellt. 

Mit den Retrospektiven, die unter Ihrer Ägide veranstaltet wurden, haben Sie nicht unbedingt einen Bruch vollzogen, aber eine starke Neu-orientierung. Vor Ihnen wurden zahlreiche berühmte Regisseure gefeiert, zumal Filmexilanten. Ab 2006 gab es nur drei Personalien: Bergman, Buñuel, King Vidor. Dafür rückten Technik und Ästhetik stärker in den Fokus (70 mm, Technicolor) und historische Epochen wie das Weimarer Kino. 

Wir haben uns im Team überlegt, dass es jetzt unsere Aufgabe ist, ein Bewusstsein für ein größeres Feld zu wecken. Neben den großen Namen gibt es auch andere an ihrer Seite, die man nicht kennt. Die erste Retro, die wir so konzipiert haben, war 2012 »Die rote Traumfabrik«, die der Produktionsfirma Prometheus in der Weimarer Repu­blik und ihrem sowjetischen Gegenpart, der ­Meschrabpom, gewidmet war. Da waren ganz unvermutete Filmschätze zu entdecken. Dieses Prinzip haben wir fortgesetzt mit einem Fokus auf den deutschen Film. Vier Jahre später haben wir uns dann auf das Jahr 1966 konzentriert, wo das Kino in Ost und West scheinbar auf den Höhepunkt der Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft zusteuert – aber aus politischen Gründen sind die Effekte total unterschiedlich. 1966 gibt es in der DDR die Verbotsfilme, dort wird sozusagen der kritische Impuls vernichtet. Währenddessen feiert der Neue Deutsche Film erste Erfolge. Das haben wir als einen unbeachteten Bruchpunkt in der Filmgeschichte gesehen. Dabei haben wir auch gemerkt, dass sich in dieser Zeit die erste Generation von Regisseurinnen mit Kurzfilmen vorstellt, woraus die Retro »Selbstbestimmt« entstand. Wir fanden es auch an der Zeit, noch einmal ganz neu auf Weimar zurückzublicken, den Kanon zu sprengen. Das war eine sehr schöne Erfahrung, denn wir haben Regisseurinnen und Regisseure gebeten, einzelne Filme vorzustellen. Die Rückmeldungen waren großartig, denn sie fanden das damalige Kino ungemein modern und herausfordernd. 

Die Retrospektive ist das Aushängeschild der Kinemathek. Wie war die Zusammenarbeit mit zwei sehr unterschiedlichen Festivalleitern? 

Wir haben uns hier im Team jeweils zwei oder drei Themen überlegt, die uns machbar und interessant erschienen. Weder Dieter Kosslick noch Carlo Chatrian haben die Vorschläge abgelehnt, aber sie haben auch nicht einfach gesagt: Macht mal! Daraus entspann sich immer eine Diskussion, ob ein Thema in der jeweiligen Zeit passte oder ein anderes gerade aktueller oder stärker war. Die Initiative ging immer von uns aus und wir haben stets einen Partner gefunden, der verstanden hat, was wir wollten. Als wir uns überlegten, einmal wieder einen amerikanischen Regisseur zu präsentieren, fiel die Wahl auf King Vidor, dessen Vielseitigkeit uns überzeugte. Da hatte Carlo dann auch Lust, bestimmte Filme mit seiner persönlichen Sicht auf sie vorzustellen. Und nun freuen wir uns auf die Diskussionen mit Tricia Tuttle! 

Der Umzug der Kinemathek an den Potsdamer Platz war 2000 in vieler Hinsicht ein Quantensprung: Nun hatte sie auch Laufkundschaft. Aus dem Ausstellungsbüro hieß es damals, 30 Prozent der Besucher stammten aus dem Ausland. 

Für die Ausstellungen sind es inzwischen sogar 40 Prozent. Für die Retrospektive profitieren wir natürlich von den Kinos. Wir sind ein integralerer Teil des Festivals geworden. Der große Vorteil des Standortes war, dass er alles zusammengebracht hat. Er hat für uns eine Verjüngung und Erweiterung des Publikums mit sich gebracht. Das Image der Retro hat sich seither sehr gewandelt. Sie ist nicht mehr nur etwas für Filmhistoriker, sondern spricht ein breiteres Publikum an. 

Hat sich das Publikum gewandelt? Ist es voraussetzungsärmer oder -reicher geworden? 

Was die Ausstellungen angeht – wir haben mehrere Umfragen gemacht, die das zeigen –, haben wir für das Publikum das Profil eines klassischen Museums. Die Leute, die zu uns kommen, entsprechen diesem Segment. Da gibt es also schon ein gewisses Vorwissen. Beim Kinopublikum gehe ich eher davon aus, dass es eine gewisse Entdeckerfreude gibt. Wir hatten ein ganz hübsches Erlebnis mit einem Zuschauer, der Ingmar Bergman nicht kannte und zum Fan wurde, nachdem er über 20 Filme in der Retro gesehen hatte. Da merkt man, dass wir eine bestimmte Aufgabe haben. Früher fand beispielsweise die Vermittlung von Filmerbe durch die dritten Programme des Fernsehens statt, was ein sehr niederschwelliger Zugang war. Oder man ging mal in die Videothek, aber diese Infrastruktur ist ja fast ganz weg. Da attraktive Festivalprogramme zu finden, ist die neue Herausforderung. 

2023 feierte die Kinemathek 60-jähriges Jubiläum. Damals sprachen Sie davon, das sei weniger ein Anlass zur Rückschau als zum Blick nach vorn. 

Das hätten wir mit einem großen Festakt wie zum 50-jährigen Jubiläum feiern können, aber wir wussten ja, dass wir in zweieinhalb Jahren unseren Standort verlassen müssen, weil der Mietvertrag ausläuft. Das ist schade für den Potsdamer Platz. Aber der Vermieter schaut auf die Rendite, und die können öffentliche Institutionen eben nicht sicherstellen. Uns stellt das vor besondere Herausforderungen. 

Eine haben Sie im letzten Jahr benannt: »Wir müssen die Situation des Bewegtbildes neu bestimmen.« Welche Diskussionen sind da­raus entstanden?

Wir realisieren, dass innerhalb des Diskurses der Gesellschaft nicht nur das Bewegtbild, sondern kulturelle Überlieferung insgesamt anders angeschaut wird. Das hängt mit postkolonialen Diskursen zusammen, das hängt mit Identitäten zusammen, die sich neu definieren und als besonders wahrgenommen werden wollen. Ich denke hier an die vielen Debatten über Blackfacing oder Stereotype. Das betrifft dann auch bestimmte Filme. Spike Lee hat beispielsweise den Finger in die Wunde gelegt und gesagt: Wir reden über »The Birth of a Nation« (Geburt einer Nation) von David Wark Griffith immer als ein Meisterwerk, aber wir reden nicht genug darüber, dass das ein rassistischer Film ist. Nun ist die Kinemathek kein Hort rassistischer oder antisemitischer Filme, aber wir müssen darauf antworten können. Also muss man sich das neu anschauen. Die andere entscheidende Frage betrifft das Medium selbst, dessen klassische Definition – es gibt das Kino, das Fernsehen und dann noch das Streaming – nicht mehr passt. Es wandelt sich so radikal, da müssen wir uns mit anderen Formen vertraut machen. Das ist ein Prozess, der natürlich lange dauern wird und den wir in unserem Zwischenquartier im »E-Werk« an der Mauerstraße fortsetzen werden, um ihn im fertigen Filmhaus in einigen Jahren zeitgemäß präsentieren zu können. 

Bedeutet der Umzug auch, dass Sie vermehrt an auswärtigen Projekten arbeiten werden, wie jetzt bereits an der großen Filmgeschichtsausstellung in der Völklinger Hütte?

Der Umzug in das Zwischenquartier, ein früheres Umspannwerk, das uns viele Möglichkeiten bietet, wird im Januar abgeschlossen sein. Im Februar werden wir schon wieder ein Programm zeigen können. Er bedeutet aber, dass wir vorerst keine ständige Ausstellung mehr haben werden. Sie ist inzwischen aber auch 25 Jahre alt. Für das neue Filmhaus bereiten wir langfristig eine neue Präsentation vor. Darüber hinaus werden wir innerhalb des Zwischenquartiers fast alle Angebote vom Potsdamer Platz aufrechterhalten können. Die Bibliothek wird zugänglich sein, wir werden Sichtungsmöglichkeiten und die Mediathek haben und können die Bildungs- und Vermittlungsarbeit fortsetzen. Wir werden dort kleine experimentelle Ausstellungen zeigen. In der Tat müssen wir neue Partner in Berlin und außerhalb suchen. Ein Vorgeschmack ist ja bereits die Ausstellung von Filmplakaten, für die wir mit dem Kunstmuseum hier nebenan kooperieren. Auch unsere internationalen Kontakte müssen wir noch weiter ausbauen, um Ausstellungen zu zeigen. Die Botschaft ist also: Wir bleiben aktiv, und wir bleiben zugänglich. 

Sie halten an der Aussicht auf ein Filmhaus fest, von dem es zeitweilig hieß, es sei vom Tisch. 

Claudia Roth hat sich mehrmals dahingehend geäußert, dass sie das Filmhaus unterstützen wird, auch den Standort auf dem jetzigen Parkplatz des Martin-Gropius-Baus. Da gibt es noch bürokratische Hürden zu überwinden. Aber von zwei verschiedenen Leitungen des BKM, zuerst Monika Grütters von der CDU, nun Claudia Roth von den Grünen, haben wir große Unterstützung erfahren. Wir gehen davon aus, dass das Bekenntnis zum Filmhaus belastbar ist. Wir werden dann eine Infrastruktur vorfinden, die gut zu uns passt: Topographie des Terrors, Martin-Gropius-Bau, Exilmuseum. 

Derzeit droht aber eine Diaspora diverser Filminstitutionen. Wer wird unter dem Dach des Filmhauses zusammenkommen? 

Die Berlinale mit ihren Büros, Vision Kino und wir. Leider nicht die DFFB und das Arsenal. Die DFFB hat als Berliner Institution eine Berliner Lösung gefunden. Das Arsenal wird langfristig ins »Silent Green« gehen. Es steht auf dem Standpunkt, dass für uns bei der Kinemathek eine Zwischenlösung funktionieren kann. Für ein Kino stellt sich das anders dar. Wenn es innerhalb weniger Jahre zwei Mal den Standort wechselt, muss es auch zwei Mal das Publikum neu gewinnen. 

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