Kritik zu Colonos

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In seinem Historien-Western nimmt Regisseur Felipe Gálvez Haberle ein­ verdrängtes Kapitel chilenischer (Kolonial-)Geschichte in den Blick

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Feuerland ist der Name des Archipels an der Südspitze Südamerikas, gebildet aus einer sehr großen Insel sowie unzähligen kleinen, vom Festland getrennt durch die Magellanstraße und seit 1881 aufgeteilt zwischen Chile und Argentinien. Hier, genauer: auf der Hauptinsel, sind 1901 drei Männer unterwegs, die einander nicht leiden können.

Bill (Benjamín Westfall) ist ein großmäuliger Cowboy aus Texas, ein Söldner, erprobt im Kampf gegen die Ureinwohner Nordamerikas. Der Mestize Segundo (Camilo Arancibia) wird, gegen Bills Willen, mitgenommen, weil er gut schießen kann. Alexander MacLennan (Mark Stanley), der ihn rekrutiert, kommt aus Schottland, hat in der englischen Marine gedient und gibt sich als Leutnant aus, obwohl er nur Gefreiter ist. Im Auftrag des Großgrundbesitzers José Menéndez (Alfredo Castro) suchen die drei einen sicheren Weg, auf dem dessen Schafherden zum Atlantik getrieben werden können. Unterwegs begegnen sie einem Fähnlein Soldaten, das einen Landvermesser begleitet, der den Grenzverlauf feststellt; es kommt zu sportlichem Wettstreit. Etwas später, da haben sie bereits die Küste erreicht, stoßen sie auf eine Truppe Trapper, die von einem schottischen Oberst angeführt wird, der sich als schwer derangiert erweist; diesmal ist der Wettstreit kein sportlicher. Dazwischen metzeln sie ein kleines Häufchen indigener Nomaden vom Volk der Selk'nam nieder; Segundo macht dabei nicht mit, kann sich aber auch nicht zur Gegenwehr entschließen. Er hätte ohnehin keine Chance.

»Colonos« ist das Langfilmdebüt des seit einigen Jahren in Paris lebenden chilenischen Drehbuchautors und Cutters Felipe Gálvez Haberle, uraufgeführt im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes in der Sektion »Un Certain Regard«. Der Film ist ein Western aus Lateinamerika, gedreht im Normalformat, das auch das Format des klassischen US-amerikanischen Western ist – mit dem er zudem das Motiv der gewaltsamen Landnahme gemeinsam hat; die wiederum ist eng verknüpft mit dem Massenmord an jenen Völkern, die den vorgeblich zu zivilisierenden Raum ursprünglich bewohnen. »Colonos« adressiert ein Kapitel der Geschichte Chiles, das von offizieller Seite mit ebensolcher Hartnäckigkeit gemieden wird wie die Verbrechen der Militärdiktatur unter Pinochet.

Wobei Haberle im Verlauf der exem­plarisch entworfenen Handlung historisch verbürgtes Personal auftreten lässt: José Menéndez (1846–1918) beispielsweise, dessen wirtschaftliche Interessen im Film den Mordauftrag motivieren, denn die Selk'nam betrachten seine Schafe, »das weiße Gold«, als Allgemeingut und jagen sie. Ein Menéndez-Denkmal steht heute noch in Punta Arenas. Auch Alexander MacLennan (1871–1917) ist eine historische Figur. Er soll sich bei seinen Vernichtungsfeldzügen durch besonderen sadistischen Einfallsreichtum ausgezeichnet haben und ging dafür nicht nur als »Red Pig« in die (Kolonial-)Geschichte ein, sondern auch als Namensgeber einiger chilenischer Straßen. Im Schlusskapitel des Films begegnen wir zudem einem Wiedergänger des Richters Waldo Seguel, der seinerzeit im Auftrag von Präsident Pedro Montt die Vorgänge im Nachgang untersuchte und zahlreiche Zeugenaussagen zusammentrug – woraus allerdings, wenig überraschend, nichts weiter folgte.

All dies zu wissen ist hilfreich, aber nicht Bedingung, um in »Colonos« ein herausragend komponiertes filmisches Werk zu sehen. Haberle nutzt die Möglichkeiten eines Genres, in dem herzlich gern gelogen wird, um der Wahrheit Geltung zu verschaffen. Aus dem Zusammenwirken von Harry ­Allouches treibender, percussionsfundierter Musik, Simone D'Arcangelos gesättigten Bildern trüber Landschaften und Matthieu Taponiers energischer Montage entwickelt sich ein Sog. Er führt vom Abgrund in die Hölle, vom Morallosen ins Unmenschliche, bildet den Taumel der Barbarei ab. Am Ende blicken wir in das Gesicht einer Überlebenden, den Tatsachen ins Auge.

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