Kritik zu All of Us Strangers

© Walt Disney

2023
Original-Titel: 
All of Us Strangers
Filmstart in Deutschland: 
08.02.2024
L: 
105 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Andrew Haighs neuer Film bezaubert und irritiert. Erzählt er eine Geistergeschichte? Ist seine Handlung ein Traumgebilde, eine Halluzination? Eines steht fest: Die Gefühle sind eindringlich in dieser Meditation über Trauer, Liebe und Bekenntnis

Bewertung: 4
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Der erste Kuss will ihnen noch nicht recht gelingen. Sie tasten sich an ihr Begehren heran. Es muss erst ausgehandelt werden: in der Rückversicherung, ob die Zärtlichkeit dem anderen auch gefällt. Adam (Andrew Scott) verlangt eine Pause, um Luft zu holen. Die Dringlichkeit ihrer Lust entfaltet sich in je eigenem Tempo. Adam stürzt sie in Verlegenheit. Harry (Paul Mescal), der einzige andere Bewohner dieses sonst rätselhaft leeren Apartmenthauses, geht offensiver mit ihr um. Er muss keine Hemmungen überwinden, kann seine schwule Identität ungezwungen ausleben. Sie hat gewiss auch eine andere Vorgeschichte. Die Liebesbegegnung mit dem jüngeren, einfühlsamen Nachbarn ist der erste engere Kontakt, den Adam seit Ewigkeiten knüpft. Ist es schon Zeit für Vertrauen und Hingabe – oder gilt es, noch zu zögern?

Adam steckt in einer tiefen Sinnkrise, der Drehbuchautor findet keine Inspiration für sein nächstes Buch. Eines Tages sucht er das Haus in der Vorstadt auf, in dem sich seine Kindheit zutrug. Die Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als er kaum zwölf Jahre alt war. Unversehens steht jetzt der Vater (Jamie Bell) vor ihm, der ihn ins Haus einlädt. Dort freut sich die Mutter (Claire Foy), ihn nach langer Zeit wiederzusehen. Beide nehmen ihn zunächst als Erwachsenen wahr, wollen wissen, wie es ihm seither ergangen ist. Im Haus scheint sich seit 1987 nichts verändert zu haben; die Eltern rauchen wie die Schlote. Das beiderseitige Staunen ist groß. Aber insgeheim hat Adam diese Zeitkapsel nie ganz verlassen. Auch musikalisch mag der Film sich nicht aus ihr lösen, der Soundtrack prunkt mit den Pophymnen der Ära.

Die Erinnerungen können nun aktiv in die Gegenwart übersetzt, Unerledigtes kann aufgearbeitet werden. Adams spätes Coming-out verstört die Mutter vorerst; seine Sehnsucht, vom Vater tröstend in den Arm genommen zu werden, erfüllt sich. Im Prinzip hat Adam nun die Chance, als Erwachsener mit ihnen eine Beziehung einzugehen. Die Dialoge gehen sehr wohl in diese Richtung, aber Adams Blicke und Gesten führen immer mehr ins Kindesalter zurück. Scott spielt diese Verwandlung wunderbar einnehmend.

Erzählt Andrew Haigh eine Geistergeschichte oder nehmen Träume vor unseren Augen konkrete Gestalt an? Vielleicht setzt er fortan ja Adams Drehbuch in Szene? Der Regisseur legt Fährten zu all diesen Möglichkeiten aus. Die erste Einstellung, in der Adams Spiegelbild sich wie eine Doppelbelichtung über das ferne, nächtliche Panorama Londons legt, könnte auch ihn als Geist ausweisen. Die Schauplätze sind vieldeutig, zugleich märchenhaft und Metapher. Aber Haigh treibt kein intellektuelles, philosophisches Spiel mit ungesicherten Realitätsebenen, sondern forscht, wie belastbar die freigesetzten Emotionen sind. Die Frage ist nicht, ob das alles wirklich ist, heißt es in einem Dialog, sondern ob es sich wirklich anfühlt.

Haigh öffnet für seine Figuren einen magischen Raum. Es liegt ein ungeheurer Zauber von Eindringlichkeit in dieser neuen Verbindung, die eingegangen wird im Zeichen von Trauer, Erkenntnis und Offenheit. Foy und Bell sind jünger als Scott, aber überzeugen in ihrer elterlichen Reife. Die Mutter bemerkt, dass Adam ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. »Es ist so«, sagt sie, »als ob ich euch zwei gleichzeitig vor mir sehe.« Auch für diese Übertragung nimmt sich dieser großzügige Film Zeit. Wenn er eine Geistergeschichte erzählt, dann eine entschieden taktile: Er entspinnt sich in einer tröstlichen Choreographie der Berührungen und Zärtlichkeiten.

Die Eltern sind zur Stelle, als Adam sie dringend braucht. Sie sind untypische Geister, denn sie kennen die Regeln nicht, denen ihre Präsenz gehorcht. Die Einsamkeit ihres Sohnes schmerzt sie, aber sie spüren, dass sie ihn wieder freigeben müssen. Eine schönere Lebensermutigung als ihr Bekenntnis, ihn noch mehr zu lieben, seit sie ihn besser kennen, wird man in diesem Jahr schwerlich hören.

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