Buch-Tipp: Frederick Wiseman – Das Schauspiel der Gesellschaft

Diskrete Forschung

Seit über 50 Jahren ist Frederick Wiseman diskreter und zugleich wachsamer Chronist der amerikanischen Gesellschaft. Er hat In­stitutionen wie Schule, Polizeistation, Krankenhaus, Sozialamt, Schlachterei, Gericht oder Ausbildungscamp für Soldaten erforscht, aber auch Orte wie Panama Canal Zone, Central Park und Aspen. Mit über 80 Jahren begann er, sich in Frankreich auch den schöneren Dingen des Lebens zuzuwenden, der Comédie Française, dem Ballett der Pariser Oper. Ob Wiseman nüchterne Bürokratie und rigide Militärausbildung porträtiert oder einen sinnlichen Theaterbetrieb – sein Ansatz ist stets derselbe. Mit diskreter Zurückhaltung klinkt er sich in die Arbeitsprozesse der jeweiligen Orte ein, lässt ohne Kommentar und Musik die Szenen sprechen, die er mit seinem Kameramann über Wochen sammelt und dann minutiös verdichtet und choreographiert. In der Reihe Deep Focus im Bertz Verlag widmet sich nun Hannes Brühwiler als Herausgeber und Autor dem Werk des großen Humanisten, das er in vielen Facetten auffächern lässt, im Grunde mit einem ähnlichen Ansatz wie Wiseman, der übrigens auch zwei Spielfilme gedreht hat und seine Filme generell als fiktiv beschreibt, »weil jede Szene stark bearbeitet ist«. Besonders interessant in diesem Zusammenhang sind auch die in verschiedenen Beiträgen aufblitzenden Bezüge zu themengleichen Spielfilmen.

Autoren, nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum, nähern sich dem Werk in vielfältigen Facetten. Mal persönlich betroffen, aus eigener Erfahrung und Praxis, mal eher analytisch und filmhistorisch einordnend, mal im Detail eines Films, mal im größeren Zusammenhang werden die rund 50 Werke Wisemans in Beziehung zueinander und in ihren Unterschieden voneinander betrachtet. Die Methode Wiseman wird dabei auch vom Regisseur in einem längeren Gespräch sowie einem Protokoll der eigenen Schnittprozesse erläutert. In seiner choreographierten Vielstimmigkeit ist der Band des Ausnahmedokumentaristen würdig. Wie dessen Filme ist er immer lebendig, auch durch die Bebilderung mit vielen, oft großformatigen Filmstills.


 

Hannes Brühwiler (Hg.): Frederick Wiseman. Das Schauspiel der Gesellschaft. Deep Focus 35. Bertz + Fischer, Berlin 2023. 188 S., 29 €.

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