10/2023

Unsere Themen im Oktober:

»Ein Mann für's Feine« – In Scorseses »Killers of the Flower Moon« spielt Jesse Plemons mal den Guten. Bisher war er als Darsteller für wandelbare Nebenrollen bekannt: als psychopathischer Neonazi mit Unschuldsmiene in »Breaking Bad« oder als unglücklicher Ehemann in »The Power of the Dog«. Thomas Abeltshauser hat Plemons in Cannes gesprochen +++ 

»Die Kirche schaut hin!« – 1948 hat Robert Geisendörfer den »Evangelischen Film-Beobachter« gegründet, einen Vorgänger von epd Film. Rudolf Worschech erinnert an die Gründerzeit +++ 

»Die Geister, die wir riefen« – Von ChatGPT zu Skynet: Künstliche Intelligenz hat auch im Kino Konjunktur – und ist häufig böse. Wird sie uns retten oder vernichten? Georg Seeßlen über die Mutation eines unerschöpflichen Kinomotivs +++ 

Filme des Monats: Anselm | The Creator | Die Theorie von Allem | Die Mittagsfrau | Wochenendrebellen | Ingeborg Bachmann +++

In diesem Heft

Tipp

Zwei Netflix-Serien spiegeln auf sehr verschiedene Weise Leben und Werk von Arnold Schwarzenegger und Brigitte Bardot, ein Mal als Dokumentar- und ein Mal als Spielfilm-Projekt.
Die wahre Geschichte des Massenmordes, der vor einem Jahrhundert an Mitgliedern des Stammes der Osage verübt wurde, inszeniert Martin Scorsese als intimes Epos um Niedertracht, Loyalität und Zweifel. Leonardo di Caprio spielt verblüffend uneitel und Lily Gladstone leuchtet sanft in der Rolle der verratenen Ehefrau.
Düsteres Erbe: In »Heimsuchung« versteckt sich im Elternhaus mehr als alte Erinnerungsstücke.
50 Jahre nach seinem Kinostart erscheint »The Wicker Man« in einer umfänglichen 4K-Edition. Er begründete das Genre des Folk Horrors und gilt in Großbritannien zu Recht als Kultfilm
Ideologisch imprägniert: Veit Harlans »Die goldene Stadt« mit kritischen Extras.
Die Vorgeschichte zu »Yellowstone«: Die Wild-West-Serie »1883« (2021).
Lange Nächte in Straßburg: »Parlament« führt sachkundig und mit Witz durch das Labyrinth der EU-Institutionen.
Pablo Larraín imaginiert Pinochet als blutsaugenden Vampir mit einer langen Vergangenheit auf der falschen Seite der Geschichte.
Heiter bis bewölkt: In der Serie »Walking on Sunshine« des österreichischen ORF richten sich Blitz und Hagel aufs eigene Metier.
In der Adaption von Sebastian Fitzeks Mystery-Thriller »Die Therapie« verirrt sich Stephan Kampwirth als Psychiater im Exil eines seelischen Irrgartens.
»Fair Play« belebt nicht nur die Ästhetik des Erotikthrillers der Neunzigerjahre neu, sondern schildert sehr modern die Disparität der Geschlechter in den Erfolgsjobs an der Wall Street.
Aubrey Plaza spielt in »Emily the Criminal« eine Frau mit Schulden und Verstand – und einer gewissen kriminellen Energie. Der Film ist eine übersehene Independent-Perle.
Elizabeth Olsen und Jesse Plemons glänzen in David E. Kelleys Mehrteiler »Love & Death«, der einen bekannten texanischen Mordfall aus dem Jahr 1980 nacherzählt.
Am 15.10. spricht Regisseur Max Gleschinski im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit epd-Film Autor Ulrich Sonnenschein über seinen Film »Alaska«.
Persönlich und politisch: die Autobiografie von Elliot Page.
Psychische Erkrankungen sieht man nicht. Das stellt das Kino, wenn es davon erzählen will, vor Repräsentationsprobleme. Neue Studien zu einem klassischen Thema.
Aufgeklärt: Robert Zion wirft einen frischen Blick auf die US-Filme von Fritz Lang.
Berlinale in der Krise. Festivalherbst vor der Tür. Zwei materialreiche Bände erläutern, wie Filmfestivals funktionieren – und was sich mit Pandemie und Streaming geändert hat.
Kristina Höchs Einordnung der Ikone Gustaf Gründgens in die Filmkultur seiner Zeit hat das Zeug zum Standardwerk.

Thema

Ausstellungen sind seit Jahren regelrechte Popveranstaltungen. Und neben dem guten alten Biopic blüht im Kino die Sparte Künstlerdokumentation. Mit dem Anselm-Kiefer-Porträt von Wim Wenders erreicht sie einen vorläufigen Kulminationspunkt.
In Scorseses »Killers of the Flower Moon« spielt Jesse Plemons mal den Guten. Bisher war er als Darsteller für wandelbare Nebenrollen bekannt: als psychopathischer Neonazi mit Unschuldsmiene in »Breaking Bad« oder als unglücklicher Ehemann in »The Power of the Dog«. Thomas Abeltshauser hat Plemons in Cannes gesprochen.
Im Oktober feiert das ­Gemeinschaftswerk der ­Evangelischen Publizistik sein 50. Jubiläum. Gegründet wurde das GEP von Robert Geisendörfer. Der hatte schon 1948, also vor 75 Jahren, eine der beiden Vorläuferpublikationen von epd Film, ins Leben gerufen: den »Evangeli­schen Film-Beobachter«. Rudolf Worschech über die die Gründerzeit der evangelischen Filmpublizistik.
Oscar, Emmy, Tony Award: Bei Preisverleihungen war Ellen Burstyn stets gut vertreten. Wie viel­seitig sie unterwegs ist, wird trotzdem erst auf den zweiten Blick deutlich. Ihre aktuellen Filme profitieren von der Schauspiel- und Lebens­erfahrung, die sie mitbringt.
Wird sie der Menschheit nutzen oder die Weltherrschaft an sich reißen? Georg Seeßlen über Künstliche Intelligenz im Film.

Meldung

Barbara Albert, 52, Regisseurin und Drehbuchautorin, ­geboren in Wien, wurde 1999 mit ihrem ­Debütfilm »Nordrand« bekannt. Sie ist ­Mitgründerin der Produktionsgesellschaft coop99 und der ­Akademie des Österreichischen Films. Ihr neuer Film »Die Mittagsfrau« mit Mala Emde startet am 28. September.

Filmkritik

Halb SciFi-Action, halb (Anti-)Kriegsepos erzählt Gareth Edwards von Menschlichkeit im Konflikt zwischen humanoiden Robotern und ihren Schöpfern. Am Ende steht zu viel Kitsch im Raum, doch nicht zuletzt die Kameraarbeit sowie die Spezialeffekte machen aus spannender Unterhaltung hier ein echtes Kino-Erlebnis.
Es ist die vor allem aus England bekannte Geschichte einer Gruppe von Underdogs, die sich mit unorthodoxen Mitteln, erdigem Pragmatismus und schwarzem Humor Geld verschaffen. Unter der Regie von Laurent Tirard wird die französische Version mit vier Benediktiner Nonnen zum albernen Mix aus bösartigen Tricks, unwürdigen Slapstick-Einlagen und faden Witzen, die vor allem irritiertes Kopfschütteln auslösen.
Henry James' Novelle über Lebensuntüchtigkeit, die sich als hehre Verweigerung tarnt, gilt als unverfilmbar. Der österreichische Regisseur Patric Chiha hat sie dennoch adaptiert und in einem Nachtclub in Paris angesiedelt. Die Melancholie ausgeschlagener Liebe bleibt intakt. Aber der fiebrige Erlebnishunger, der sich an diesem Schauplatz Bahn bricht, ist nicht vergeblich.
Bewegendes Beziehungsdrama zwischen Vater und Sohn, die zusammen trotz einschränkendem Authismus auf der Suche nach einem Lieblingsverein durch deutsche Stadien ziehen. Wahr und wahrhaftig zugleich.
Episoden aus dem wilden Leben des Skandalkünstlers des 17. Jahrhunderts. Raumgreifend und schön, dabei aber auch immer wieder zahm und gewöhnlich.
Sally Hawkins sucht die leiblichen Überreste von König Richard III. und besteht dabei als Querulantin gegen das Historiker-Establishment. Englischer Charme und allzu eindeutige Antagonismen.
Mischung aus Leidensgeschichte und Rachefantasie, die als Märchen einigermaßen funktioniert und in Caleb Landry Jones mit einem überzeugenden Hauptdarsteller aufwarten kann.
Amüsante, manchmal etwas allzu alberne Komödie über die Schicksalsgemeinschaft eines Anti-Flugangst-Seminar, die auf Island strandet. Dort offenbaren die Teilnehmer auf ganz unterschiedliche Art ihre Verletzlichkeit, um ihren Ängsten dann zu begegnen.
Mit der Kinoversion seiner liebenswürdigen dokumentarischen Erkundungen des Alltäglichen gelingt Franz Xaver Gernstl ein etwas anderer Heimatfilm.
Niels Arden Oplevs Film »Rose« erzählt ernsthaft, empathisch und gleichzeitig humorvoll von einer schizophrenen Frau in den Vierzigern – von ihrer Reise nach Paris und in ihre Vergangenheit.
Ein junger Staatsanwalt aus einer Großstadt scheitert in einer entlegenen anatolischen Kleinstadt an knochenharten korrupten Strukturen und ein wenig auch an seiner eigenen Selbstüberschätzung. Ein weiteres herausragendes Werk des herausragenden türkischen Filmemachers Alper, analytisch, spannend, unheimlich und brandaktuell.
Ihren neuerlichen Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit der Welt haben die Brüder Dardenne in bewährtem Handkamerarealismus inszeniert. Die Laien Pablo Schils und Joely Mbundu verkörpern die Titelfiguren zweier Geflüchteter mit einnehmender Energie, Reife und Sensibilität.
Die vierte Filmadaption von Erich Kästners Jugendromanklassiker glänzt mit schöner Alpenkulisse und namhaften Darstellern, vernachlässigt jedoch wesentliche Bausteine der Geschichte und wirkt insgesamt etwas unbeholfen.
In der brandenburgischen Provinz des Jahres 1997 gerät eine Nachwuchsjournalistin nach dem Tod der Oma an ehemalige KZ-Aufseherin. Sylke Enders erzählt davon, wie wichtig Kommunikation für die Aufarbeitung von Traumata ist. Nur geht die Spiegelung zwischen Generationen und Systemen wegen wenig authentischer Dialoge und fehlender künstlerischer Ideen leider nicht auf.
Margarethe von Trotta porträtiert die Dichterin Ingeborg Bachmann, ihre tragische Beziehung zu Max Frisch und die Suche nach Heilung. Mit mondänen Locations, stilvollen Bildern und guten Schauspieler*innen, allen voran Vicky Krieps in der Hauptrolle, bleibt der Film erzählerisch leider zu vage und zu mutlos, sowohl was die Liebesgeschichte, als auch was das Denken und das Werk Bachmanns angeht.
Mit ihrem Dokumentarfilm eröffnet die Exilchinesin Jialing Zhang beklemmende Einblicke in den chinesischen Totalitarismus, der durch Digitalisierung an Effizienz gewann.
Ein angehender Schriftsteller wird im Haus seines großen Idols in ein düsteres Familiendrama hineingezogen – sehr gut gespielt und atmosphärisch inszeniert, mangelt es dem Film an interessanten Figuren und einer schlüssigen Dramaturgie.
Barbara Albert hat den gleichnamigen Bestseller-Roman von Julia Franck verfilmt. Die Chronik der deutschen Historie vor, während und nach dem 2.Weltkrieg als Geschichte weiblicher Selbstermächtigung, ganz unmittelbar, gegenwärtig und sinnlich erzählt, mit einer beeindruckend nuancierten Darstellung von Mala Emde.
Die wahre Geschichte des Massenmordes, der vor einem Jahrhundert an Mitgliedern des Stammes der Osage verübt wurde, inszeniert Martin Scorsese als intimes Epos um Niedertracht, Loyalität und Zweifel. Leonardo DiCaprio spielt verblüffend uneitel und Lily Gladstone leuchtet sanft in der Rolle der verratenen Ehefrau.
Eine Familie besucht eine andere Familie, die sie im Urlaub kennengelernt hat. Rasch stellt sich heraus, dass diese Leute doch nicht so nett sind, wie man dachte. Tafdrup nimmt sich die höfliche Konvention vor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und denkt die Möglichkeit des bösen Spiels mit kalter Grausamkeit zu Ende. Ein Horrorfilm in der Tradition von Michael Hanekes »Funny Games«, auch wenn der das vermutlich eher nicht so sehen würde.
Timm Kröger mischt für sein Multiversum die Karten der Filmgeschichte gründlich durch, um daraus etwas rätselhaft Neues entstehen zu lassen und lässt Realität und Fiktion, das Faktische und das Mögliche souverän und geheimnisvoll oszillieren.
Berührend-brutales Porträt einer lesbischen Lehrerin in den späten 1980ern in Großbritannien, als Homosexualität im öffentlichen Leben unter Strafe stand – mit einer großartigen Rosy McEwen, die diese zerbrechlich-wankende Lehrerin spielt.
Ein leider zu unfokussierter, ungenauer (und auch ungenau untertitelter) und erratisch angelegter Film zu gewichtigen Themen wie Aktivismus, Ausbeutung, Korruption und gesellschaftlichem Wandel.
Mit ihrem eindringlich inszenierten Regiedebüt gelingt Chie Hayakawa die düstere Vision einer nahen Zukunft, in der alte Menschen keinen Platz mehr finden.
Wie wird man filmisch einem Künstler wie Anselm Kiefer gerecht, der sich Konventionen entzieht? Wim Wenders würdigt den 78-Jährigen in brillantem 3D, das nicht überwältigt, sondern immersiv vermittelt.
Mit wenig Budget und viel Kreativität erzählen die Independent-Filmemacher Justin Benson und Aaron Moorhead von zwei Freunden, die in die Welt obskurer Verschwörungstheorien geraten. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den Mitteln des Low-Budget-Films, bei der die tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema etwas zurückstecken muss.
Eine Langzeitdokumentation zum größten Projekt der Solidarischen Landwirtschaft in Deutschland, die genauer hinschaut, als dies im Genre Best-Practice-Film üblich ist und auf spannende Weise viele, oft unerwartete Irrungen und Wendungen zusammenträgt.
Michael Fassbender verkörpert den Auftragsmörder als Helden unserer Zeit: Er googelt, kauft bei Amazon ein und macht Yoga. Finchers Thriller hat einen banalen Plot, aber ungeheuer interessante Details.
Im Alter von fünfzig Jahren verabschiedet sich ein Club-Med-Animateur nach Paris, um eine Jugendliebe wiederzufinden und begegnet stattdessen seinem Halbbruder: eine burleske Komödie mit deutlichen Drehbuchschwächen, was aber meist durch das eingespielte Team Kad Merad/Dany Boon aufgefangen wird.
So wirklich gelungen war noch keiner von Kenneth Branaghs Auftritten als Meisterdetektive Hercule Poirot, und auch »A Haunting in Venice« kehrt diesen Trend nicht um. Dass er sich dieses Mal gegenüber der Vorlage einige Freiheiten herausnimmt, ist zwar begrüßenswert. Doch der Versuch, über Grusel-Atmosphäre mit Mystery-Einschlag zusätzliche Spannung zu gewinnen, gelingt nur höchst bedingt. Viel eigentlicher Agatha Christie-Charme bleibt da nicht übrig – und die hochkarätigen Nebendarsteller*innen haben einmal mehr zu wenig zu tun.

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