Jesse Plemons: Der gute Mensch aus Texas

Ein Mann für's Feine
»The Power of the Dog« (2021). © Kirsty Griffin / Cross City Films / Netflix

»The Power of the Dog« (2021). © Kirsty Griffin / Cross City Films / Netflix

Typischerweise spielt Jesse Plemons Nebenrollen, für die man einen wandelbaren Charakter braucht: vom Fiesling in »Breaking Bad« bis zum unglücklichen Ehemann in »The Power of the Dog«. Jetzt spielt er eine kleine, aber feine Rolle als Ermittler in ­Martin Scorseses epischem »Killers of the Flower Moon«. Thomas Abeltshauser hat in Cannes mit Plemons gesprochen

»Hi, I'm Jesse, pleasure.« Als ob es noch eine Erklärung bräuchte, wer er ist. Gleich beim Betreten des Raums kommt Jesse Plemons dem Interviewer lächelnd entgegnen, stellt sich mit festem Händedruck vor. Dabei ist der amerikanische Schauspieler der Grund, warum wir an diesem Sonntagnachmittag hier sind in der Hotelsuite in Cannes, wo am Vorabend Martin Scorseses »Killers of the Flower Moon« Weltpremiere feierte. Die Stars des Films heißen Leonardo DiCaprio und Robert De Niro, doch eine Schlüsselfigur spielt der 35-Jährige. Und womöglich ist dessen Gesicht vielen vertrauter als sein Name. Höchste Zeit also, herauszufinden, wer Jesse Plemons ist. Höflich bietet er einen Sessel an und wartet, bevor er sich selbst setzt. Er spricht leise und bedacht, mit diesem weichen Texasakzent, bei dem eine angenehme Grundentspanntheit mitschwingt.

In dem Epos über eine Mordserie an Ureinwohnern im Oklahoma der 1920er Jahre spielt er Tom White, das gute Gewissen im Sumpf aus Lügen und Verrat, der mit dem von J. Edgar Hoover neu gegründeten FBI auf den Plan tritt, nachdem die örtliche Polizei lange tatenlos zugesehen hat. So zentral seine Rolle ist, taucht Plemons erst weit in der zweiten Hälfte des 206-Minuten-Werks auf. »Ich finde, es ist effektiv und wichtig, dass es so lange dauert«, sagt er, »weil es widerspiegelt, wie viel Zeit damals wirklich verging, bis Hilfe kam.« Es ist das zweite Mal, dass er mit Scorsese dreht. Die Castingagentin Ellen Lewis hatte vor Jahren dafür gesorgt, »dass Martin mich auch dem Radar hat«, wie Plemons es ausdrückt. Scorsese hatte den Schauspieler zuvor in »The Irishman« besetzt, in einer Nebenrolle als Chuckie O'Brien, Ziehsohn des Gewerkschaftsführers Jimmi Hoffa. Lewis erzählte ihm danach, dass Scorsese plante, »Killers of the Flower Moon« zu verfilmen. »Sie war sich ziemlich sicher, dass ich da auch reinpassen würde.« Also las er das Sachbuch von David Grann, ohne zu wissen, für welche Figur er infrage käme. »Ich ging davon aus, dass es auf eine Rolle hinausläuft, die ›Rassist Nummer 4‹ heißt oder ›FBI-Typ Nummer 6‹, so was in der Art«, erinnert sich Plemons. 

Er nennt diesen Tom White einen »Superhelden der Moral«. Für Plemons ist es eine ungewöhnlich eindeutige Rolle, zumindest auf den ersten Blick. »White wuchs in einer Zeit auf, in der unvorstellbarer Rassismus herrschte und schreckliche Ereignisse passierten. Er war Mitglied der Texas Rangers, die als klassische Cowboyhelden galten, dabei sind sie im Grunde eine Gang, die systematisch farbige Menschen auslöschte. Es grenzt an ein Wunder, dass in diesem Umfeld aus ihm ein Mann wurde, der so unerschütterlich an Gerechtigkeit und Gleichberechtigung festhielt, klar zwischen Gut und Böse unterschied.« Es sei schwer vorstellbar gewesen, dass jemand ein so durch und durch guter Mensch ist. »Ich habe David Grann gefragt, ob er bei seinen Recherchen für das Buch irgendetwas in Whites Biografie gefunden habe, das dieses Ideal relativiert. Und tatsächlich gab er mir einen Hinweis, den ich sehr hilfreich fand. Er hatte den Eindruck, dass Tom White einen Zorn und eine Wut hatte, die er ein Leben lang im Zaum halten musste. Einen Zorn, der daher rührt, dass seine Ansichten so grundverschieden von allen anderen waren, dass er in ständiger Opposition war, für seine Werte kämpfen musste. Mir leuchtete das sofort ein und es half mir, diese Figur zu verstehen, mehr in ihr zu sehen als den durch und durch guten Helden.« 

Das Brodeln unter der Oberfläche könne er gut nachvollziehen, sagt er, »schließlich bin ich in Texas aufgewachsen. Aber geht es nicht den meisten von uns so, gerade in der heutigen Zeit mit all den schrecklichen Nachrichten? Es kann einen doch nur wütend machen angesichts der Tatsache, dass wir keinen Weg finden, immer wieder dieselben Fehler zu machen.« Er hält kurz inne und räuspert sich. »Keinen Weg finden, das klingt so klischeehaft. Aber mit ein bisschen mehr Wohlwollen könnten wir alle gut miteinander auskommen.«

Plemons hat im Film deutlich weniger Szenen als DiCaprio und De Niro, die darüber hinaus die schillernden Charaktere spielen. Dagegen zu bestehen und eine dreidimensionale Figur zu verkörpern, die bleibenden Eindruck hinterlässt, war für Plemons die große Herausforderung. »Rein technisch gesehen ist es natürlich besser, wenn man mehr Zeit und mehr Szenen hat, man kommt in einen ganz anderen Rhythmus, es fühlt sich auch beim Dreh weniger bruchstückhaft an. Gerade wenn ich eine der signifikanteren Szenen gedreht habe und das Gefühl habe, Nuancen an der Figur zu entdecken, sie mir weiter anzueignen, dauert es wieder wie lange auch immer, bis ich das nächste Mal vor der Kamera stehe.« Die Relevanz des Films sei beim Dreh offensichtlich gewesen, jede Szene habe da großes Gewicht. »Mir ist es sehr wichtig, es gut zu machen, ich stelle ständig alles infrage. Habe ich was vergessen? Bei kleinen Szenen gibt es oft wenig, worauf man sich fokussieren kann, es gibt weniger zu tun, jede Geste bekommt so mehr Aufmerksamkeit. Diese Momente haben mir mehr zu schaffen gemacht, weil der Schwung fehlt, den man bei kontinuierlicherem Arbeiten entwickelt.« Dazu kam, dass der Film mitten in der Pandemie entstanden ist; Plemons betont, wie schwer es ihm gefallen sei, bei den Proben die Gesichter seiner Gegenüber nicht sehen zu können. 

Wie er sich eine Rolle aneignet, beschreibt er als einen Prozess, der jedes Mal ähnlich abläuft, ob für eine Nebenrolle in einem Film oder eine Serienfigur, die sich über eine ganze Staffel entwickeln kann. »Ich umkreise sie, so oft ich kann und finde einen Zugang, der für mich den meisten Sinn ergibt. Woran kann ich anknüpfen, was löst etwas in mir aus. Und dann versuche ich, all das wieder abzuwerfen und schaue nur, was gerade in diesem Moment passiert, bin ganz präsent im Hier und Jetzt. Das ist das Tolle am Schauspielen für mich.« 

Seine Rollen wähle er aus unterschiedlichen Gründen aus, sagt er. »Bei einem guten Regisseur habe ich das Vertrauen, so ziemlich alles zu machen. Aber tatsächlich ist es meist eine Kombination aus Faktoren: Wer macht es, wer ist noch besetzt, gefällt mir das Drehbuch? Ein paar Rollen habe ich nicht wegen der Figur selbst gespielt, sondern weil mich die Geschichte als Ganzes interessiert hat und ich dabei sein wollte. Andere Male ist es vor allem die Figur, die mich fasziniert, deren Welt und Perspektive ich verstehen will. Es ist immer verschieden, aber es fühlt sich nie wie eine aktive Entscheidung an. Manchmal reagiere ich auf etwas, das ich gar nicht benennen kann. Wie wenn man jemandem begegnet und da ist sofort so ein Funke, die Chemie stimmt, das kann ganz unmittelbar sein.«

Plemons gelassene Art ist auch Ausdruck von mehr als drei Jahrzehnten Berufserfahrung. Mit dreieinhalb Jahren steht er zum ersten Mal vor der Kamera, lasso­schwingend für einen Coca-Cola-Werbespot. Geboren am 2. April 1988 in Dallas, Texas, wächst Plemons in Mart auf, einem Dorf in der Nähe von Waco mit knapp 2000 Einwohnern. Es folgen Auftritte als Kinderstatist, nicht zuletzt wegen seiner blonden Haare und seines properen Äußeren wird er oft als All American Boy besetzt. Mit Unterstützung seiner Eltern versucht er es mit 11 Jahren in Los Angeles, tingelt von Casting zu Casting. Im Footballdrama »Varsity Blues« hat er 1999 eine kleine Sprechrolle als Paul Walkers jüngerer Bruder und ist »ziemlich von den Socken, wie anders ich am Set behandelt wurde, nur weil ich ein paar Zeilen Dialog hatte«, erinnert er sich. Eine zweite Rolle kurz darauf wird dagegen zur Enttäuschung. In Billy Bob Thorntons Western »All the Pretty Horses« spielt er in einer Rückblende die jüngere Version des von Matt Damon gespielten Cowboys. Als er mit Freunden ins Kino geht, um sich selbst auf der Leinwand zu sehen, wartet er vergebens auf die Szene. Sie war dem Schnitt zum Opfer gefallen.

»Black Mirror« (Staffel 4, 2017). © Netflix

Danach spielt er hier und da Gastrollen in Serien, macht nebenbei online seinen Schulabschluss. Der Durchbruch kommt mit 18, mit der Dramaserie »Friday Night Lights« über eine Highschool in einer texanischen Kleinstadt und deren Footballteam. Zwischen 2006 und 2011 ist er 65 Folgen lang als etwas nerdiger, zum Sarkasmus neigender Schüler Landry Clarke zu sehen, der seine eigene Band hat und Teil des Footballteams wird, um seinen Vater zu beeindrucken. Und der mit seiner Jugendliebe Tyra auch einen Typen auf dem Gewissen hat. Jesse ist auf eine Art mit Landry erwachsen geworden, Plemons nennt die Zeit »meine Collegejahre«. 

Der Gegensatz von Gut und Böse interessiert ihn da schon nicht. Und auch bei den Figuren, die er in den nächsten Jahren verkörpert, sind es die Nuancen und Grauzonen, denen er nachspürt. Er gibt lieber den etwas merkwürdigen Typ, aus dem man nicht ganz schlau wird, ob im Kino oder in Serien. Im Kino sind es oft Figuren aus der zweiten Reihe, in Steven Spielbergs »Bridge of Spies« und »Die Verlegerin« etwa, oder in Paul Thomas Andersons »The Master« als Sohn des von Philip Seymour Hoffman gespielten Sektenführers – Charaktere, die in Erinnerung bleiben, weil er sie in wenigen Szenen effektiv glaubwürdig verkörpert.

Und dann kommt »Breaking Bad«, wo er in der finalen Staffel (und später im Filmsequel »El Camino«) Todd Alquist spielt, den Angestellten der Kammerjägerfirma, die den Drogendealern Walter und Jesse als Tarnung dient. In der ohnehin skrupellosen Welt der Crystal-Meth-Köche entpuppt sich seine Figur als brutaler Bandenführer, der über Leichen geht, bis er im Laufe der Staffel zum Chefproduzenten des Meth-Labors aufsteigt. Sein Auftritt inspirierte Fans der Serie, in Anspielung auf Plemons angebliche physische Ähnlichkeit mit Matt Damon (und die geschnittene Szene aus »All the Pretty Horses«), zum Spitznamen Meth Damon, der in vielen Memes online kursierte.

»Fargo« (Staffel 2, 2015). © FX/Netflix

In »Fargo«, der Serie, die sich mit jeder Staffel neu erfindet, verkörperte er in der zweiten Staffel Ed Blumquist, einen hingebungsvollen Ehemann, der für seine Frau Peggy alles tun würde. Hier spielte er erstmals an der Seite von Kirsten Dunst, die später auch im realen Leben seine Partnerin und, im Sommer 2022, seine Ehefrau wurde. Sie sind inzwischen Eltern zweier Söhne.

Eine ungewohnte Seite zeigt Plemons dann in der Anthologieserie »Black Mirror«. Die Auftaktepisode der vierten Staffel, USS Callister, ist eine SF-Parodie, die in ihrer Auseinandersetzung mit Virtual Reality düster und verstörend, zugleich aber eine der witzigsten Folgen der Dystopie-Serie ist. Hier kann Plemons als Captain Robert Daly bei aller toxischen Maskulinität auch sein komödiantisches Talent zeigen. Dafür wurde er 2018 als Hauptdarsteller für den Emmy nominiert. Gerade hat er erneut Chancen auf die Auszeichnung, diesmal als bester Nebendarsteller in der True-Crime-Miniserie Love & Death, die bei uns auf RTL+ zu sehen ist.

In Jane Campions preisgekröntem Westerndrama »The Power of the Dog« spielten Kirsten Dunst und Plemons 2021 erneut ein Ehepaar, er erhielt dafür eine Oscarnominierung als bester Nebendarsteller. Auf die Frage, wie sehr ihm die Auszeichnung geholfen habe, antwortet er zögerlich. »Es war etwas ganz Besonderes, all das mit Kirsten zu erleben«, sagt er und überlegt dann kurz. »Aber ich versuche aus mehreren Gründen, so wenig wie möglich über die geschäftlichen Aspekte meines Berufs nachzudenken, was dies oder jenes für meine Karriere bedeuten könnte. Ich konzentriere mich lieber auf das, was ich kontrollieren kann.« 

»Game Night« (2018). © Warner Bros. Pictures

Auch deshalb haben Dunst und er eine Produktionsfirma gegründet, entwickeln gemeinsam eigene Stoffe. Plemons muss sich noch einfinden in die neue Rolle, wie er zugibt. »Ich habe oft keine Ahnung, was ich tue, aber es macht mir großen Spaß. Ich mag es, mich zu fordern und zu merken, dass es noch so viel zu lernen gibt.« Die Firma war da nur der logische nächste Schritt. »Ich habe das aus der Peripherie schon eine Weile beobachtet, wenn meine Frau an einem Projekt arbeitet und wir überlegen, wer als Besetzung infrage käme. Solche Dinge. Das reizt mich. So viel beim Filmemachen hängt davon ab, die richtigen Leute zusammenbringen. Es ist, wie einen anderen Muskel zu trainieren. Eine neue Welt zu erschaffen ist etwas anderes als herauszufinden, wie eine Welt funktioniert und wie ich selbst hineinpasse.« Auch wieder gemeinsam vor der Kamera zu stehen, schließt er nicht aus. »Ich würde sehr gern etwas Neues für uns beide finden, weil ich sie ziemlich liebe und weil sie einfach verdammt talentiert ist.« Er lächelt stolz. »Also ja, wir sind auf der Suche, aber noch gibt es nichts Konkretes.“

Um seine nächste Zukunft muss er sich ohnehin keine Sorgen machen. Bereits abgedreht sind der Kinofilm »AND« von Yorgos Lanthimos und die dystopische Serie »Zero Day«. Vermutlich steht er also bald wieder in einer Hotelsuite und begrüßt sein Gegenüber mit »Hi, I'm Jesse, pleasure.« 

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