Gerhard Midding

Gerhard Midding ist freier Autor für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, filmbulletin) sowie Radio-(rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat). 

Filmkritiken von Gerhard Midding

Fünf ruppige Häftlinge entdecken unverhofft ihr Talent und ihre Liebe zum Theater, als ein unterbeschäftigter Schauspieler (Antonio Albanese) mit ihnen »Warten auf Godot« aufführen will. Riccardo Milanis Remake von »Ein Triumph« mit Kad Merad folgt dem Original zwar genau, gewinnt aber eine eigene Unmittelbarkeit.
Als ein sittenstrenger Ex-General ein Bündel Liebesbriefe entdeckt, die vor Jahrzehnten ein Anderer an seine Frau schrieb, gerät die Welt der gesamten Familie aus den Fugen. Die wahre Geschichte, die Ivan Calbérac inspirierte, war gewiss interessanter. Darin reichte ein Sizilianer im rekordverdächtigen Alter von 92 Jahren die Scheidung ein.
Viggo Mortensen tritt in diesem Western nicht nur auf, er hat ihn auch inszeniert, geschrieben, mitproduziert und zudem die Musik zu ihm komponiert. Die Hauptrolle jedoch spielt seine Leinwandpartnerin Vicky Krieps als stolze, unabhängige Frau in einer rauen Welt. Hier herrschen männliche Willkür, alttestamentarische Justiz und frühkapitalistische Korruption. Für Mortensen ist das kein Grund, die Genresehnsucht nach Moral und Romantik aufzugeben, aber ein Anlass, dessen Traditionen lyrisch zu überdenken.
Der heimliche Favorit des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs schleudert der Altersdiskriminierung im Kino den Fehdehandschuh entgegen. Ebenso fulminant wie diskret erzählen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha (»Ballade von der weißen Kuh«), wie zwei Rentner ihr unverhofftes Liebesglück beim Schopf packen. Jeder Moment ist kostbar in diesem Kammerspiel, das die Eile mit heiterer Gelassenheit inszeniert.
Eine Kinderbuchillustratorin kehrt in die Heimat zurück, um einen Ausweg aus ihrer Depression zu finden. Im Kreis der Familie wird sie mit alten Konflikten und einem bisher beschwiegenen Geheimnis konfrontiert. Aus der Wiederbegegnung schlagen Blandine Lenoir, die den Film ihrem Vater gewidmet hat, und ihr bestens aufgelegtes Ensemble heiter-melancholische Funken.
Jeff Nichols' Bikerfilm ist eine Ode an den Gemeinschaftssinn freiheitsliebender Außenseiter, die kongenial besetzt ist und die Folklore des verblichenen Genres lebhaft gegen den Strich bürstet.
Die Geschichte einer Ehe, die früh ­scheitert, aus der es aber kein Entrinnen gibt. Daniele Luchetti (»Mein Bruder ist ein Einzelkind«) treibt in seinem ­detailverliebten, raffiniert verschachtelten Drama ein Spiel mit der Erinnerung des Publikums. Trotz einnehmender Hauptdarsteller (Luigi Lo Cascio, Alba Rohrwacher) ergreift er keine ­Partei im Ehekrieg, s­ondern spürt sensibel nach, was für Konsequenzen dieser für die Kinder hat.
Marco Carrera ergeht es wie Dr. Schiwago, dem Held seines Lieblingsromans in der Jugend: Über ihn bricht jedes Unglück der Welt hinein. Francesca Archibugi adaptiert den gleichnamigen Roman von Sandro Veronesi als eine Kaskade der Katastrophen, in welcher die illustren Darsteller sowie der große Kameramann Luca Bigazzi rätselhaft unterfordert bleiben.
Nach seiner Trilogie über die Verschärfung der sozialen Verhältnisse (u. a. »Streik«) vollzieht Stéphane Brizé einen verblüffenden Registerwechsel. Er kehrt zum Genre des sensiblen Melodrams (»Mademoiselle Chambon«) zurück. Die Wiederbegegnung eines Liebespaars (Alba Rohrwacher, Guillaume Canet) inszeniert er als eine stimmungsvolle Archäologie verschütteter Sehnsüchte und Lebenszweifel.
Den Bechdel-Test besteht Mélanie Auffrets Film mühelos: Hier diskutieren die Frauen nicht über Männer, sondern über fehlende Infrastruktur im Dorf. Willkommen in Kerguen, wo ein garstiger Rentner seinen alten Tornister schultert, um endlich Lesen zu lernen, und eine junge Bürgermeisterin pfiffig gegen die Landflucht kämpft. Die herzige Komödie fiebert mit ihren Figuren mit, ohne sie allzu großer Sentimentalität preiszugeben.