Wie ein Nazi sich selbst fängt
Ich bewundere Künstler, die über den eigenen Tellerrand schauen und sich in das andere Lager hineinversetzen. Das gefiel mir beispielsweise an »Könige des Sommers«. Darin erzählt Regisseurin Louise Courvoisier vom Sohn einen Milchbauern, der halbwegs der Pubertät entwachsen ist und sich in den Kopf setzt, aus dem Stand den besten Comté der Region herzustellen hat. Diese Einfühlung ist indes längst kein so halsbrecherischer Spagat, wie ihn Emeric Pressburger in „The Glass Pearls“ wagt.
Der Exilant, der gerade noch rechtzeitig den Nazis entkam, musste beim Schreiben seines zweiten Romans resolut über den eigenen Schatten springen, denn er ist erzählt aus der Perspektive eines KZ-Arztes. Fast könnte man meinen, er würde die Fahne des Gegners hochhalten. Sein Protagonist, der Kriegsverbrecher Dr. Otto Reitmüller lebt im London des Jahres 1965 unentdeckt unter dem Decknamen Karl Braun. Er gibt sich als Flüchtling aus und führt eine unauffällige Existenz als Klavierstimmer. Arbeitskollegen und Nachbarn schätzen ihn als einen kultivierten, zuvorkommenden Zeitgenossen, der nach Feierabend klassische Konzerte besucht.
Reitmüller führte einst chirurgische Experimente an KZ-Insassen durch, um das Wesen der Erinnerung (technisch, mental und physiologisch) zu erforschen; seine Familie kam bei der "Operation Gommorah", der Bombardierung Hamburgs, ums Leben. Schuldgefühle scheinen ihn nicht zu plagen, zwar träumt er des nachts regelmäßig von Gerichtsverhandlungen, spricht sich am Schluss jedoch stets frei. Zu Beginn zieht der unbescholtene Karl Braun um in eine Pension, in der alle Welt aufs Sparen und Rabatte versessen ist; ein Mitbewohner lebt von kleinen Schiebereien, als sei die Zeit des Schwarzmarkts noch nicht vorüber. Er freundet sich mit einem jüdischen Exilanten an, der seine Angehörigen im Holocaust verlor. Der Witwer hegt auch romantische Träume. Die Sekretärin eines Kunden lässt sich von dem großzügigen älteren Herrn zwar gern in die Weihen der Hochkultur einführen lässt, hat aber kein weiteres Interesse an ihm.
Braun/ Reitmüller glaubt, er müsse nur noch ein paar Monate stillhalten, bis die 20jährige Frist für die Verfolgung von Kriegsverbrechen abgelaufen ist. Etwaige Befürchtungen, gefasst zu werden, schaltet er durch akribischer Planung aus. Das beschauliche Einerlei seines Alltags gerät aus dem Takt, als ein alter Weggefährte ihn warnt, die Frist sei verlängert worden. Er bedrängt ihn, mit nach Südamerika zu fliehen, wo die "Bruderschaft" sie vor den Ermittlungen der Behörden schützt. Besorgt verfolgt er fortan die Berichterstattung über den Auschwitz-Prozess, wo sein ehemaliger Assistent gegen ihn aussagt. Als der alte Kumpan gefasst wird, will Reitmüller/ Braun sich nach Südfrankreich Frankreich absetzen. Die Urlaubsreise seiner ahnungslosen, platonischen Freundin scheint die ideale Tarnung dafür zu sein, aber als er sein geheimes Konto in der Schweiz auflöst, sind ihm bereits zwei Verfolger auf der Spur. Die Schlusspointe verrate ich selbstredend nicht.
Also ein Paranoia-Thriller aus der Sicht des Schurken. Dass Pressburger einem Deutschen sympathische Züge verleiht, muss nicht überraschen bei dem Drehbuchautor von »Leben und Sterben des Colonel Blimp« und »Panzerschiff Graf Spee« (siehe „Militärische Ehren“ vom 20. 12. 2019). Aber seine Leser mit einem gesuchten Nazi-Verbrecher fiebern zu lassen, ist schon tollkühn. Diese unerhörte Innenansicht machte Pressburger dann auch für den kapitalen Misserfolg des Romans verantwortlich. Die einzige Besprechung, die 1966 erschien, war ein knapper Verriss in der "Times". Inzwischen jedoch wird »The Glass Pearls« (kein Bezug zu Hesses "Glasperlenspiel") als ein vergessener Klassiker gehandelt. William Boyd, selbst ein Meister dieses Genres, feiert ihn als "a tremendous rediscovery" und bewundert Pressburgers kühne Vorstellungskraft. Das Vorwort zu meiner 2022 bei Faber Editions erschienenen Taschenbuchausgabe stammt von seinem Kollegen Anthony Quinn, der ebenfalls viel von der Materie versteht (siehe Eintrag "Leselust – Mit einem Bein in der Realität"vom 26. 7. 2021). Mittlerweile hat das "Times Literary Supplement" die damalige Scharte mit einer wohlwollenden Kritik nachträglich ausgewetzt. Wie der Rezensent allerdings darauf kommt, das Buch "a leisurely, cultured and amusing tale" zu nennen, erschließt sich mir nur zum Drittel. Cosy Crime ist das mitnichten, allein schon wegen Reitmüllers makabrer Experimente.
Nach der freundschaftlichen Trennung von Michael Powell (die beileibe nicht so endgültig war, wie ich und andere Autoren oft behaupten: tatsächlich verfolgten sie weiterhin jede Menge gemeinsamer Projekte) setzte Pressburger große Hoffnungen in eine Karriere als Romanschriftsteller. Sein erster Roman "Killing a mouse on Sunday" (großartiger Titel, auf Deutsch als "Komm nicht nach Pamplona" übersetzt) war 1961 ein veritabler Erfolg. Fred Zinnemann erwarb die Rechte und verfilmte ihn mit beträchtlichem Geschick unter dem Titel »Behold a Pale Horse« (Deine Zeit ist um); allerdings ziemlich geradlinig, ohne Pressburgers multiperspektivische Erzählstruktur. (Vielleicht sollte sich Zach Gregger nach „Weapons“ diesen Stoff einmal vornehmen.) Die Arbeit am zweiten Roman fiel Pressburger, das nimmt nicht wunder, erheblich schwerer. Aber seine Meisterschaft der neuen Disziplin demonstriert auch die elegante. wachsame Prosa von "The Glass Pearls" nachdrücklich. Es ist ein einerseits ein patenter, effektiver Thriller, aber mich haben vor allem seine atmosphärischen Qualitäten beeindruckt. Hier schreibt Einer, der die Gepflogenheiten, Konventionen und Kultur seiner neuen Heimat genau studiert hat.
Louise Courvoisier, die ich hier nicht aus den Augen verlieren will, wurde in Genf geboren, wuchs aber im Jura auf, dessen Gebräuche sie neugierig erkundete. Am deutschen Titel von »Vingt Dieux!« verwunderte mich schon im voraus das Maskulinum, auch wenn die Könige vermutlich ironisch gemeint waren. Ein Landwirtschaftsfilm mit einer weiblichen Protagonistin hätte bestimmt noch größeres kommerzielles Potenzial gehabt. Der Plural wiederum stimmt, denn es geht nicht nur um Totone, sondern auch seine Bande, die in den Dingen des Lebens reichlich ungeübt ist - was sich anfangs durchaus in einer gewissen, ahnungslosen Misogynie zeigt. Auf dem Soundtrack ist reichlich Platz für männliche Nostalgie ("Her kisses were sweeter than wine"). Die Regisseurin lässt erstaunliche Nachsicht walten in ihrem Bildungsroman.
Der Powell&Pressburger- Kenner Ian Christie und Emerics Biograph (sowie Enkel) Kevin MacDonald heben hervor, dass »The Glass Pearls« mitten in einer Identitätskrise entstand: Der Exilant litt am Schuldgefühl des Überlebenden; er hatte es sich nie verziehen, dass er seine Mutter in der alten Heimat zurückließ. Sie wurde in Auschwitz ermordet. MacDonald zeigt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen seinem Großvater und Braun auf: Beide sind Musikliebhaber, auch Emeric spielte in der Kindheit Violine und unterhielt später ambivalente Beziehungen zu jüngeren Frauen, denen er sich intellektuell überlegen fühlte. Brauns „gestohlene“ Erinnerungen an die Flucht und erste Stationen des Exils beruhen auf eigenen Erlebnissen, auch die Titel stiftenden Glasperlen in den auf seinen Partys servierten Austern gehören dazu. Die mulmige Identifikation mit seinem infamen Protagonisten erklärt all dies allenfalls hinreichend. Es ist wohl einigermaßen beispiellos, dass ein Holocaust-Überlebender einer Tätergestalt derart zivilisierte Eigenschaften zuspricht. Weshalb er so viel in diese Figur investierte, die sich schuldlos wähnt, bleibt ein grandioses Rätsel. Pressburger schrieb noch einen dritten Roman, "The Unholy Passion", den er nie veröffentlichte. Wie die beiden Vorgänger verhandelt er das Motiv der Lebenslüge; diesmal im Milieu von Darstellern eines Passionsspiels in Österreich. Ihn herauszubringen, wäre bestimmt eine dankbare Aufgabe für Faber Editions.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns