»Jaws«: Die Erfindung des Sommers

»Der weiße Hai« (1975). © Universal Pictures

»Der weiße Hai« (1975). © Universal Pictures

1975 schrieb der Kritiker Kenneth Turan, er habe die Zukunft des Kinos gesehen. Das war keine Übertreibung – die Ankunft des Weißen Hais veränderte das Filmgeschäft unwiderruflich. Im Juni ist Steven Spielbergs erster Blockbuster 50 Jahre alt geworden, jetzt kommt er wieder ins Kino. Gerhard Midding über eine phänomenale Erfolgsgeschichte

Wiederaufführung ab 5. August

Chief Brody hatte einen harten Tag. In dem beschaulichen Ferienort Amity, wo er den Posten des Polizeichefs übernommen hat, herrscht blanke Panik, seit ein riesiger Hai vor der Küste auftauchte. Gerade hat die Bestie ein zweites Todesopfer gefordert. Die Mutter des Jungen macht Brody für die Tragödie verantwortlich. Die Ohrfeige, die sie ihm vor den Augen der Einwohner verpasste, spürt er immer noch.

Er ist erschöpft, kurz ruht sein Kinn auf seinen Händen, dann vergräbt er sein Gesicht in ihnen. Brody ist so in seine Gedanken vertieft, dass er zuerst gar nicht bemerkt, wie sein kleiner Sohn jede seiner Gesten nachahmt. Jetzt lässt er sich auf das Spiel ein, faltet die Hände, damit der Junge es ebenso tut. Sodann zieht er eine furchterregende Fratze, die der Sohn vergnügt imitiert. Schließlich bittet der Vater ihn: »Gib uns einen Kuss.« »Warum«, will der Junge wissen? »Weil ich ihn brauche.«

Als »Jaws« (Der weiße Hai) 1975 herauskam, war im Publikum niemand auf einen solchen Moment zärtlichen Einvernehmens gefasst. Es erwartete einen Thriller voller Schrecken und Nervenkitzel. Den bot Steven Spielberg ihm auch – bis zum explosiven Finale. Aber der Pakt, den der Regisseur mit dem Publikum schloss, ging über die Sensationen hinaus. Am Esstisch der Brodys bewies er seine unerhörte Gabe zur ­Familiarität. Blitzschnell entsteht aus einem Alltagsmoment tiefe Vertrautheit. Der von Roy Scheider gespielte wasserscheue Polizeichef ist der erste in Spielbergs Galerie unverhoffter Helden. In dem Dreigestirn, das den Hai zur Strecke bringt – neben ihm der sturm­erprobte Jäger Quint und der Haiforscher Matt Hooper –, nimmt er die Rolle des Jedermann ein, der sich überfordert fühlt und über sich hinauswächst.

Das System Spielberg war 1975 so gut wie ausgereift. Das Wunderkind war vorbereitet auf seine erste Begegnung mit dem großen Publikum. Souverän beherrscht der 27-Jährige die Mechanismen hellen Entsetzens. Er hat von Hitchcock gelernt, was man nur lernen kann, und begriffen, dass man das Bisherige stets überbieten muss. Kein Film dieser Epoche war ästhetisch so einflussreich wie »Jaws«. Hollywood entdeckte, dass es ein größeres Boot brauchte.

»Jaws« ist einer jener Filme, von dem jede und jeder noch genau erinnert, wann und wo man ihn zum ersten Mal sah. Mit ihm kehrt das Kino triumphal zu seinen Anfängen als Jahrmarktvergnügen zurück; er ist atemraubend wie eine Achterbahnfahrt. Elegant wandelt er sich vom Horror- zu einem Abenteuerfilm und entwickelt dabei epische Qualitäten. Seine mythischen Wurzeln – Leviathan, Moby Dick – respektiert er und bereichert sie um eine unverhofft zeitgeschichtliche Dimension. Als Quint erzählt, wie er 1945 die Torpedierung der USS Indianapolis überlebte, ­werden unversehens die Schrecken des Atomzeitalters greifbar: Fast die gesamte Besatzung des Schiffs wurde von Haien massakriert – aber die Bombe kam rechtzeitig nach Hiroshima.

»Jaws« brachte nicht nur drei Sequels hervor, die den Vergleich nicht bestehen, weil sie von bloßen Handwerkern gedreht wurden. Die Internet Movie Database verzeichnet rund 1000 Titel, die auf den Film Bezug nehmen, darunter allein 150 Parodien. Spielberg selbst spielt in seiner Farce »1941« augenzwinkernd auf ihn an, als eingangs die Darstellerin des ersten Hai-Opfers vom Periskop eines japanischen U-Boots aufgespießt wird. Und gerade erst war in Cannes zu sehen, wie beharrlich diese Faszination fortwirkt. Kleber Mendonça Filhos Wettbewerbsbeitrag »O Agente Secreto« (The Secret Agent) verweist auf ihn, ebenso der australische Thriller »Dangerous Animals« von Sean Byrne, der in der »Quinzaine des cinéastes« lief. Unlängst ist mit »Fear Below« ein weiteres australisches Genrestück auf Heimmedien gestartet, das das ikonische Plakatmotiv abkupfert. Das Poster, auf dem der aufgerissene Kiefer auf eine arglose Schwimmerin zusteuert, wurde in den USA übrigens zum Vorbild unzähliger politischer Karikaturen, in denen die CIA, die Steuergesetze oder Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan die ­Rolle des Raubtiers einnahmen.

Für die doppelte Buchführung von Tradition und Erneuerung bürgten bereits die Produzenten von »Jaws«. Richard D. Zanuck war der Sohn des Moguls Darryl F. Zanuck, der jahrzehntelang Warner Brothers und 20th Century Fox leitete. Sein Partner David Brown kam vom Journalismus und besaß ein Gespür für das Potenzial literarischer Stoffe. Noch bevor Peter Benchleys Romanvorlage 1974 veröffentlicht wurde, erwarben sie die Filmrechte für Universal. Die anderen Studios zeigten kein Interesse an einem Erstlingsroman über einen Fisch. Der vorgesehene Regisseur Dick Richards disqualifizierte sich rasch, weil er in Konferenzen immer vom »weißen Wal« sprach. Spielberg stand beim Studio unter Vertrag und hatte zuvor mit Zanuck/Brown das Roadmovie »Sugarland Express« realisiert. Er war begeistert von der Idee, dass ein Hai ein Territorium für sich beansprucht und nicht mehr verschwinden will.

Der Drehbeginn wurde für das Frühjahr 1974 angesetzt; bis Ende Juni musste der Film im Kasten sein, weil die Schauspielergewerkschaft einen Streik angekündigt hatte. Das war nach Spielbergs Ansicht mindestens zwei Monate zu früh, da weder das Drehbuch fertig noch die Besetzung abgeschlossen war. Über die Entstehung des Skripts wird seither auf eigenen Websites munter spekuliert.

Die für den Dreh erforderlichen mechanisch betriebenen Hai-Attrappen befanden sich noch im Entwicklungsstadium. Einzig der Drehort stand fest: Die Ferieninsel Martha's Vineyard wies nicht nur eine idyllische Neuenglandstimmung auf, sie hatte zudem den Vorteil, in sehr flachen Gewässern zu liegen. Noch etliche Kilometer vom Strand entfernt betrug die Wassertiefe weniger als zehn Meter. Das erleichterte die Arbeit an den Szenen, die auf offenem Meer spielen und in denen keine Küste zu sehen sein durfte. Spielberg hatte gegen den Widerstand von Universal durchgesetzt, dass der erbitterte Kampf zwischen Mensch und Natur nicht in einem Wassertank auf dem Studiogelände gedreht wurde. Er wollte nicht zurückfallen hinter den Realismus, den das New Hollywood etabliert hatte.

Auf Fotos und Filmaufnahmen vom ersten Drehtag wirken er und seine Crew noch selbstbewusst und ausgelassen. Auf die Klappe, die vor und nach jedem Take geschlagen wird, hat ein Teammitglied verschmitzt den Ober- und Unterkiefer eines Hais gemalt. Ihnen stand ein logistischer Alptraum bevor. Die mechanischen Haie entwarf der ansteckend zuversichtliche Veteran Robert A. Mattey, aber die technische Umsetzung erwies sich als schwierig. In der Werkstatt funktionierten die Modelle nach einer Weile, aber im Salzwasser gingen sie ständig unter. Spielberg lud seinen Freund Brian De Palma ein, sich erste Muster anzuschauen. Der fand, dass der Hai schielte und sein Kiefer nicht richtig schloss.

Die ärgsten Probleme bereiteten der Wind und der Seegang. Kaum war eine Einstellung eingerichtet, hatte sich entweder das Kameraboot oder das der Haijäger in eine andere Richtung bewegt. An manchen Drehtagen entstanden nicht mehr als 10 Sekunden brauchbaren Materials – eine Geduldsprobe für Cutterin Verna Fields, die wochenlang keine einzige Szene montieren konnte und wegen des wechselhaften Wetters mit Anschlussfehlern zu kämpfen hatte. Die schleppenden Fortschritte zehrten an Team und Darstellern; zwischen Robert Shaw und Richard Dreyfuss brach ein epochaler Streit aus. Am Ende wurde der ursprüngliche Drehplan von 55 Tagen um 104 Tage überschritten; das Budget stieg von dreieinhalb auf zehn Millionen Dollar. Einige Teammitglieder hatten inzwischen Einheimische geheiratet.

Es ist verblüffend, wie planvoll und ausgefeilt der fertige Film wirkt. Jede Szene trägt Spielbergs Handschrift und jede Einstellung verrät seinen Stilwillen. Tatsächlich wurde »Jaws« weitgehend beim Drehen erfunden, fast alle berühmten Momente gehen auf Improvisation zurück. Spielberg war souverän genug, um auf die eigene Intuition und die seiner Darsteller zu vertrauen. Er verstand es auch, das größte Handicap der Produktion in einen Vorteil zu verwandeln: Das kontinuierliche Versagen der mechanischen Haie münzte er in eine Dramaturgie des Hinauszögerns um. Bevor der Hai in der 80. Minute erstmals in voller Größe auftaucht, ist von ihm nur der Anblick seiner Rücken- und Schwanzflosse zu erhaschen. Welch ungeheure Kraft er besitzt, zeigt der Film nur indirekt. Spielberg setzt auf die Suggestion, er ahnt, dass das Unwägbare viel größeren Schrecken auslöst. Die Einstellungen, die aus der Perspektive des angreifenden Monstrums gefilmt sind, wurden stilbildend. Der Einsatz der Musik folgte dem gleichen Prinzip. Spielberg war zuerst enttäuscht von dem minimalistischen Thema, das ihm John Williams mit zwei Fingern auf dem Klavier vorspielte. Er hatte eine wuchtigere, klangvollere Partitur erwartet. Aber gerade die Schlichtheit und Konzentration akzentuieren die Unerbittlichkeit des Raubtiers und sollten zu einem Markenzeichen werden. Williams' tiefe, kurze Ostinati dienten später an australischen Stränden als Warnsignal.

Universal steckte in die Werbekampagne die damals unerhörte Summe von zweieinhalb Millionen Dollar. Bereits an der ­Vermarktung des Romans wirkte das Studio tatkräftig mit. Bis zum Filmstart wurden allein von der Taschenbuchausgabe dreieinhalb Millionen Exemplare verkauft. Rettungsschwimmer schliefen im Sommer 1975 aus lauter Langeweile auf ihren Aussichtstürmen ein, denn niemand ging ins Wasser: Die Badegäste blieben lieber am Strand und lasen das Buch. Universal beschränkte sich nicht auf die üblichen Trailer und Plakatwerbung, sondern setzte erstmals massiv auf TV-Werbung. Unterschiedliche Spots wurden auf ein jeweiliges Zielpublikum abgestimmt; in der Woche vor dem Start zog die Frequenz der Ausstrahlungen merklich an. Auch sonst gab es vor dem Film kein Entkommen. Das Plakatmotiv zierte Kaffeebecher und T-Shirts, eigens hergestellte Eiscremesorten fanden rasanten Absatz. Es schadete nichts, dass in der Presse Berichte über vermeintliche Hai-Angriffe an amerikanischen Küsten lanciert wurden. Bereits von den Dreharbeiten war in den Medien ausführlich berichtet worden. Zum Start erschien »The Jaws Log« (»Der Weiße-Hai-Report«), ein Drehbericht des Co-Szenaristen Carl Gottlieb, der in 17 Auflagen zum Bestseller avancierte. Das Publikum konnte hautnah an der Entstehung dieses Phänomens teilnehmen.

Der Starttermin wurde aus der Not geboren. Bis Mitte der 1970er Jahre lief das Kinogeschäft in den Sommermonaten eher flau: Warum sollte man ins Kino gehen, wenn die Sonne schien? Wichtige Filmstarts fanden in den Wochen vor Weihnachten statt. Das hatte sich bei »Der Pate« und »Der Exorzist« bezahlt gemacht. Ursprünglich hätte auch »Jaws« im Dezember herauskommen sollen. Nun wurde er auf Beginn der Badesaison 1975 verschoben. Ein offensives Timing: »Sehen Sie ihn, bevor Sie ins Wasser gehen!«

Und das Freizeitverhalten in den USA wandelte sich gerade. Die Marktforschung des Studios ergab, dass viele Jugendliche sich gern in Einkaufszentren aufhielten. Die Anzahl der Shoppingmalls hatte sich seit 1965 verdoppelt. In den meisten befanden sich Multiplexe mit Klimaanlage. Universal überließ nichts dem Zufall. Damals wurden in den USA die Löhne meist in der Monatsmitte ausgezahlt. »Jaws« konnte am entscheidenden ersten Wochenende auf ein kaufkräftiges Publikum hoffen.

Allerdings war dies nicht der erste Massenstart eines Sommerfilms. Columbia brachte im Mai das Charles-Bronson-Vehikel »Der Mann ohne Nerven« mit 1350 Kopien heraus und feierte dank dieses saturation booking einen erklecklichen Erfolg. Universal-Chef Lew Wasserman entschied sich für eine andere Art von Marktsättigung. Zwar setzte auch er auf die neue Form des zeitgleichen, landesweiten Starts, aber er halbierte die geplante Kopienzahl auf 409. Die beste Werbung, meinte er, seien lange Schlangen vor den Kinos. Als »Jaws« am 20. Juni anlief, hatte er durchaus illustre Konkurrenz. Aber der hochkarätig besetzte Spätwestern »700 Meilen westwärts« von Richard Brooks und Paul Newmans zweiter Auftritt als Privatdetektiv Lew Harper in »Unter Wasser stirbt man nicht« waren chancenlos. Schon in den ersten zwei Wochen spielte Spielbergs Film seine Produktionskosten ­wieder ein. In der Folge brach er sämtliche Rekorde. 

Mit »Jaws« veränderte sich das Zuschauer­verhalten einschneidend. Plötzlich ging man nicht mehr nur ein-, zweimal in einen Film, sondern stellte persönliche Rekorde auf. Überdies avancierte er zum dating movie des Jahres. Kein anderer Film diente derart zuverlässig der romantischen Anbahnung: Seit »Psycho« waren weibliche Teenager nicht mehr so sehr auf die schützende Umarmung ihrer Begleiter angewiesen. Die Mundpropaganda verlieh »Jaws« den Status eines Ereignisses, an dem man teilhaben musste.  

Das Marketing nahm den Puls der Zeit. Die Frage, welchen Nerv der Film selbst traf, hat unzählige Interpretationen hervorgebracht. Die Farbe des Hais ist nicht von ungefähr Weiß: eine Projektionsfläche wie die leere Leinwand. Die Spanne der Deutungen reicht von politischen, soziologischen bis zu feministischen, ökologischen und religiösen Ansätzen. Er wurde zum Indiz einer spirituellen Krise der USA erklärt. Nach Vietnam und ­Watergate spiegelte er ein Klima des Misstrauens wider: Es konnte kein Zufall sein, dass der amerikanische Nationalfeiertag eine dramaturgisch wichtige Rolle spielt. In der Figur des Bürgermeisters mit den kurios gemusterten Jacketts spielte er auf den Verfall der politischen Klasse an. Fidel Castro feierte »Jaws« als Entlarvung des Kapitalismus.

Für Skeptiker läutete er das Ende der nachdenklichen, kritischen Filme ein, die das New Hollywood in der ersten Hälfte des Jahrzehnts prägten. Etliche Kritiker sahen in ihm einen Meilenstein im Prozess der Entmündigung des Publikums. Molly Haskell fühlte sich »wie eine Laborratte, die mit Elektroschocks behandelt wird«. Ihr Kollege J. Hoberman verortete seine Wirkungsmacht auf einem anderen Feld. Für ihn war der Film »eine grausame Maschine, die sich beim Geruch von Blut in Bewegung setzt, alles verschlingt und keinen Schlaf braucht: Mit ihm begann die Kulturindustrie, von sich selbst zu erzählen.« Damit ist der Hai eine griffige Metapher für die Ästhetik der Raserei, die wir seither aus dem Blockbusterkino kennen.  

Seine Verdrängungskraft war immens. Handelsübliches Genrekino, auch das des New Hollywood, erschien mit einem Schlag altbacken. Brüsk vollzog er eine Zeitenwende: ein Türöffner, der die Konventionen unterlief, um neue zu etablieren. Dabei geht Spielberg sorgsam um mit den Ängsten der Charaktere und der Zuschauer. Er nimmt sich viel Zeit für die liebevolle Zeichnung des kleinstädtischen Ambientes und seiner Figuren. Muss man ihn also wirklich für die Verwerfungen zur Rechenschaft ziehen, die das Hollywoodkino seither durchläuft? Das wäre etwa so, als würde man die Brüder Wright verantwortlich machen, wenn heute der Urlaubsflieger überbucht ist. 

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