Tragödien ohne Konflikt
Die Debatte über Nepo Babies, die vor wenigen Jahren heftig in den USA aufflammte („Sie hat die Augen ihrer Mutter. Und deren Agenten.“), wird in Frankreich eigentlich permanent geführt. Meist geschieht das etwas leiser und womöglich auch weniger abschätzig - man spricht einfach von "fils ou fille de..." Wie verbreitet das Phänomen ist, führt aktuell die Besetzungsliste von Cédric Klapisch' »Die Farben der Zeit« vor Augen.
Zu seinem Ensemble gehören unter anderem Suzanne Lindon, Sara Giraudeau, Raika Hazanivicius (deren Nachnamen einen augenblicklichen Wiedererkennungswert besitzen) sowie Julia Piaton und Paul Kircher. Einerseits spiegelt dies eine gewisse Selbstverständlichkeit wider, die in dieser Branche herrscht. Sie hat einen Hang zum Dynastischen (etwa beim Clan der Seydoux) und in ihr stehen der Darsteller teilweise schon in der dritten Generation vor der Kamera (Cassel, Brasseur, Garrel etc.). Selbstredend mischt sich in die Diskussion zuweilen auch ein moralischer Zungenschlag, also die Frage nach dem Startvorteil von Töchtern oder Söhnen, denen der Familienname quasi automatisch die Tür öffnet. Daran schließt sich meist der Einwand an, diese Privilegierten müssten sich danach aber ihre Karriere eben doch erarbeiten. Ein Schauspieler-Gen hat die Wissenschaft bislang noch nicht entdeckt, aber Klapisch' Darsteller beispielsweise sind allesamt sehr talentiert. Sagen wir es einmal so: In Frankreich kann der Streit, ob es sich hier um eine Aristo- oder eine Meritokratie handelt, gelassener ausgetragen werden als in der Neuen Welt.
Klapisch' Besetzungsstrategie, die vermutlich gar keine ausdrückliche ist, scheint insofern triftig, weil es in seinem Film um ein Erbe geht - also um etwas, das einem ohne eigenes Zutun zufällt. Die Verantwortung, die daraus erwächst, ist ein Thema, das für mich eine persönliche Relevanz hat (weshalb mich die Gegenwartsebene des Films auch weit intensiver beschäftigt hat als Klapisch` touristische Passage durch die Belle Époque). Das Haus, das ich von meinen Eltern geerbt habe, ist fast so alt wie das Landhaus in der Normandie, das Adèle Meunier im Film hinterlassen hat. In welchem Jahr es tatsächlich erbaut wurde, konnte ich erst nach einer Weile ermitteln. Mein Vater, der durchaus zu einer gewissen Gerissenheit fähig war, hatte in amtlichen Dokumenten stets das absolut unwahrscheinliche Baujahr 1960 angegeben. Das hielt ich immer für einen Zahlendreher, aber damit bezog er sich auf den Zeitpunkt des letzten größeren Umbaus. Auf dem Herforder Katasteramt erfuhr ich schließlich, dass es 1896 frtiggestellt wurde, was mich seither mit beträchtlicher Genugtuung erfüllt: wahrscheinlich wurde an ihm schon gebaut, als die Brüder Lumière in Paris die ersten Filme vorführten (bzw. die Skladanowskys in Berlin, wenn Ihnen eine patriotischere Zeitrechnung lieber ist)!
Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein Bauernhof, was man heute kaum noch erkennen kann. Anders als Adèles Anwesen in der Normandie birgt es keine Kunstschätze, die zum kulturellen Erbe des Landes gehören. Zumindest habe ich bisher noch keine gefunden. Es besitzt für mich nicht zuletzt, wahrscheinlich sogar vor allem einen sentimentalen Wert. Ein möglicher Käufer würde das altersschwache Gebäude ohne Zweifel sofort abreißen, um auf dem weitläufigen Grundstück ein neues, zukunftsträchtigeres errichten. Vor diesem Problem steht auch die Erbengemeinschaft in „Die Farben der Zeit“, wobei dort erheblich höhere Summen auf dem Spiel stehen. Ich fürchte, bei ihrer Entscheidungsfindung wäre ich keine große Hilfe. Meine Eltern brachten mir bei, dass man ein Erbe bewahrt. Meine Mutter, die zu Strenge neigte, ging noch einen Schritt weiter. Sie fand, man müsse es sich verdienen.
Matt King, den George Clooney in »The Descendants« (2011) von Alexander Payne beton unglamourös spielt, würde diesem Diktum womöglich zustimmen. Der Anwalt ist Treuhänder einer Familienstiftung, die große Liegenschaften auf der Insel Kaua'i besitzt. Zu ihren Vorfahren gehört ein hawaiianische Prinzessin; Matt hält viel auf die Familientradition. Eine Galerie von Porträtfotos der vorangegangenen Generationen ziert eine Wand seines Wohnhauses – geradeso, wie Klapisch im Abspann seines Films, den Sie nicht verpassen sollten, die Genealogie der weitverzweigten Familie rekapituliert. Schon davor hat Matts Familie einige Teile des Landes verkauft, im Gegensatz zu seinen offenkundig klammeren Cousins hat er dieses Geld jedoch nie angerührt, sondern auf in einen Treuhandfonds für seine Töchter gesteckt. Nun jedoch zwingt eine Änderung im Stiftungsrecht die Familie, den Rest in einer absehbaren Frist zu veräußern, was sie alle sehr, sehr reich machen würde. Investoren, die in der malerischen Bucht Hotels und Luxusapartments errichten wollen, stehen Schlange. Unter den Cousins herrscht ein gewisser Konsens darüber, dass das Land an einen einheimischen Interessenten gehen soll. Es gilt freilich auch, ökologische Aspekte in Betracht zu ziehen. Matt ist (noch) nicht bereit, die unberührte Naturidylle der Zerstörung preiszugeben. Er fühlt sich mit dem Land verbunden, begreift es als etwas, das sie schützen müssten. Der Streit mit den Cousins ist vorprogrammiert.
Den Archipel Hawaii ruft Clooneys Voice-over als eine Metapher für die Familie auf, deren Mitglieder zusammengehören, aber doch eigenständig sind. Aus dieser Mehrdeutigkeit entstehen auch in »Ende eines Sommers« (2008) von Olivier Assayas Spannungen. . Er ist in vieler Hinsicht ein Vorläufer und womöglich eine Inspirationsquelle für »Die Farben der Zeit«: der Film hinter dem Film; zumindest seiner Gegenwartsebene, in der ebenfalls das Musée d'Orsay als maßgeblicher Schauplatz dient. Auch hier geht es um ein altes Haus, das eine Schatzkammer ist, reich gefüllt mit Kunstwerken und Erinnerungen. Als ihre Mutter (Edith Scob) wenige Monate nach ihrem 75. Geburtstag stirbt, müssen drei Geschwister entscheiden, was mit ihrem Anwesen außerhalb von Paris geschehen soll. Die Mutter hat es als einen Schrein für ihren Großonkel eingerichtet, der ein namhafter Maler war. Ihr ältester Sohn (Charles Berling) will es halten - schon um der Kinder willen, wie er meint, der labyrinthische Garten lädt ein, seine Geheimnisse zu lüften -. aber vor allem zum Andenken an die Geborgenheit, die er und seine Geschwister dort erfahren hat. Seine Schwester (Juliette Binoche) und sein jüngerer Bruder (Jérémie Rénier) leben jedoch im Ausland; es fällt ihnen leichter, loszulassen. Die bedeutende Sammlung von Möbeln und Gemälden, mit denen der Alltag dort jahrzehntelang drapiert war, sollen auf Anraten des Testamentsvollstreckers aus Steuergründen zu einem Teil an das Museum gehen. Die Zeit drängt, weil einige Bilder bereits Schäden aufweisen und dringend restauriert werden müssen. aden nehmen könnten. Ein altes, feuchtes Haus – das Problem kenne ich zur Genüge!
Wie man das (Kultur-)Erbe bewahren, wie die Vergangenheit der Gegenwart begegnen kann, ist die schöne Sorge dieses eminent bürgerlichen Films. Assayas inszeniert den Umbruch der Biographien jedoch als als heitere Elegie, letztlich als Tragödie ohne Konflikt. Eric Gautiers Kamera scheint unablässig in Bewegung zu sein, indes mit einer betörenden Ruhe und Gelassenheit, die ein melancholisches Einverständnis verraten mit dem Fluss des Lebens. Insgeheim hat Assayas längst schon die nächste Generation im Blick, in deren andere Entdeckerfreude er große Hoffnungen setzt. Es passt, dass auch er eine nachfolgende Darstellergeneration in tragenden Rollen besetzt: Berlings Sohn Emile; Alice, die Tochter von Louis-Do de Lenquesaing, sowie überraschenderweise Kyle Eastwood.
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