Mubi: »April«
Leise hört man ein Bachplätschern, Schritte auf einer Wiese, Kinderlachen. Einen Abzählreim, von Kranichen, die in den Süden fliegen, eins, zwei, drei, vier, fünf Kinder, die Fangen spielen. Eine fröhliche, ausgelassene Szene, die aber nicht zu sehen ist, sondern nur auf der Tonspur stattfindet. Die Leinwand ist schwarz, verschluckt fast jedes Licht. Nur in der Mitte ist eine Kreatur zu erkennen, menschenähnlich, mit deformierten Gliedmaßen, hängenden Hautlappen und ohne Gesicht, die sich gebeugt und wie in Zeitlupe mühselig schleppend bewegt. Am Boden spiegelt sie sich schemenhaft in einer Flüssigkeit, bis erst die Spiegelung, dann die Figur selbst im Dunkel des Hintergrunds verschwindet. Es bleibt das Rauschen des Wassers, das lauter wird, Frösche quaken und ein intensives Atmen ist zu vernehmen, ganz nah.
April beginnt ebenso rätselhaft wie faszinierend. Was hat es mit dieser monströsen Figur auf sich, die so unvermittelt auf- und wegtaucht im schwarzen Nichts, noch vor dem Titel in georgischen Lettern? Die 1986 geborene Filmemacherin Dea Kulumbegashvili hat ein Faible für solche Momente der Irritation. Bereits ihr Langfilmdebüt »Beginning« begann mit einer Messe in einem Gemeindehaus, die von einer plötzlichen Explosion erschüttert wurde. Ein extremistischer Anschlag, wie sich später herausstellt, doch im ersten Moment ist das Publikum auf sich allein gestellt. Der ausgelöste Affekt sorgt für Aufmerksamkeit und Interesse. Und der Schock bleibt nicht Selbstzweck. Später wird die Kreatur mehrfach wieder auftauchen, im Lebensumfeld der Protagonistin, ohne Erklärung, aber doch mit Assoziations- und Deutungsangeboten.
Nina (Ia Sukhitashvili) ist eine junge Ärztin, die im Krankenhaus der Kleinstadt als Gynäkologin und Geburtshelferin arbeitet. Heimlich berät sie junge Frauen zur Pille, führt privat in den umliegenden Dörfern auch illegale Schwangerschaftsabbrüche durch, um Frauen in Not zu helfen. Sie scheint stoisch ihrer Aufgabe verpflichtet, Nina lebt allein. Nur hin und wieder gabelt sie auf der Heimfahrt mit dem Auto fremde Männer auf und hat anonymen Sex. Ein Begehren, das nicht aus Lust, sondern Trauma gespeist scheint, auch wenn der Film offenhält, was Nina in ihrer Vergangenheit erlebt hat. Eines Tages stirbt im Krankenhaus ein Neugeborenes kurz nach der Entbindung, und Nina gerät unter Verdacht, nicht richtig gehandelt zu haben. Ermittlungen werden eingeleitet, die auch ihre Freizeit und ihr Privatleben betreffen.
Kulumbegashvili erzählt das in 134 Minuten nicht stringent, sondern mit Ellipsen und Andeutungen, dann wieder langen expliziten Szenen, die zu betrachten schwer erträglich und selbst nahezu körperlich schmerzhaft ist. So filmt sie etwa eine Abtreibung in einer minutenlangen Einstellung, statisch und ungeschnitten. Der Eingriff selbst wird durch den Schenkel der jungen Patientin verdeckt, doch zu hören ist das klappernde OP-Besteck, was erst recht Bilder in den Köpfen des Publikums evoziert.
Gedreht hat die Regisseurin in der Kleinstadt Lagodechi im Osten Georgiens, in der sie aufgewachsen ist, gelegen in der Region Kachetien am Rande des Großen Kaukasus. Mit dieser geografischen Abgeschiedenheit setzt sie sich filmisch ebenso auseinander wie mit den patriarchalen, christlich-orthodoxen Strukturen, die dort noch immer den Alltag prägen. »Beginning« etwa handelt von einer jungen Frau, deren Leben in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas nach dem Anschlag aus den Fugen gerät und die sich gegen die gesellschaftlichen Widerstände zur Wehr setzt.
Kulumbegashvili selbst hatte sich früh den strikten Strukturen ihrer Heimat entzogen, war nach New York City ausgewandert und studierte Filmregie an der Columbia University School of the Arts. Gleich ihr erster Kurzfilm »Invisible Spaces« lief 2014 im Wettbewerb von Cannes. Ihr Langfilmdebüt »Beginning« kam in die Auswahl des Cannes-Jahrgangs 2020, pandemiebedingt fand das Festival nicht statt. Premiere feierte der Film dann im Herbst in San Sebastián, wo der Film die Goldene Muschel als bester Film erhielt und Kulumbegashvili für die beste Regie und das Drehbuch sowie Hauptdarstellerin Ia Sukhitashvili ausgezeichnet wurden. Die bis dahin nur wenigen Cineasten bekannte 33-Jährige war plötzlich in aller Munde. Ein Erfolg, dem sie nun mit einem Werk folgt, das in vielem noch radikaler und kompromissloser ist.
Esoterisch nannten das Kritiken nach der Weltpremiere vor einem Jahr beim Filmfest Venedig, wo April mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Doch »esoterisch« trifft es nicht, was Kulumbegashvili in ihrem komplexen und ambivalenten Abtreibungsdrama macht. Sie schließt Slow Cinema mit Bodyhorror kurz, verbindet den sozialen Realismus mit surrealen Elementen, höchst eigenwillig und ästhetisch streng. Auf analogem 35-mm-Filmmaterial drehte sie mit Kameramann Arseni Khachaturan lange, statische Einstellungen, Dialoge finden oft jenseits des Blickfelds statt. Das hat durchaus seine Längen, bleibt aber als sperrige und herausfordernde Erfahrung lange im Gedächtnis.
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