Ab in den Kehricht

In dieser Woche startet mit „Fantastic Four: First Steps“ ein neuerlicher Versuch, das Marvel-Universum auszudehnen. Nicht einmal an meinem Geldautomaten gibt es ein Entkommen davor. Offenbar empfindet die Berliner Volksbank eine gewisse Affinität zu der genossenschaftlichen Anstrengung, die Welt zu retten.

Einige Rezensenten, darunter Andreas Platthaus, erinnerten derweil daran, dass dies keineswegs die ersten Schritte sind, die die familiensinnige Superhelden-Quadriga vor der Kamera unternommen hat. Tom Fordy geht im »Independent« noch einen Schritt weiter und blättert die bewegte Stoffgeschichte (https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/features/fantastic-four-movies-worst-1994-b2793661.html) bis zu der allerersten Verfilmung auf. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und mutmaßt, sie könnte womöglich die beste von allen sein. Allerdings hat sie nur eine Handvoll Menschen je gesehen, denn sie kam nie heraus. Mithin ranken sich zahlreiche Legenden um sie, die schon mit der kuriosen Produzentenallianz von Roger Corman und Bernd Eichinger anfangen. Stan »The Man« Lee hatte höchstselbst ein Treatment verfasst. Craig Nevius, der endgültige Drehbuchautor der Low-Budget-Version, fungiert als Fordys Kronzeuge dieser fürwahr bizarren Entstehungs- und Verhinderungsgeschichte. Eichinger hatte bereits in den 1980ern eine Option auf die Saga erworben, die am 31. Dezember 1992 ausgelaufen wäre - falls er nicht rechtzeitig eine Produktion in Angriff nahm. Da stand also weit mehr auf dem Spiel als das cormanhafte Budget von gerade mal einer Million. Nevius war bass erstaunt, als er von Eichingers wahren Plänen erfuhr. Der Schock sitzt ihm bis heute in den Knochen. Aus einem ähnlichen Artikel in der "New York Times" erfuhr ich heute früh (https://www.nytimes.com/2025/07/25/movies/fantastic-four-forgotten-film.html), dass die vier Erstdarsteller einen Cameo-Auftritt im neuen Film haben. Eine liebenswürdige Hommage, die zeigt, dass das unsichtbare Erbe fort lebt.

Es gibt sogar einen eigenen Fachbegriff für aus schnöden Rechtegründen geschasste Filme: "ashcan films". Mit dem Wikipediaeintrag zu aufgegeben Filmen insgesamt könnte man einen ganzen Tag zubringen (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_abandoned_and_unfinished_films#Films_abandoned_during_filming). Auf der Liste finden sich hochmögende Namen: Hitchcock, Welles, George Cukor, Michael Cimino, Mike Nichols und viele mehr. Es passiert also auch den Besten. Erst vor ein paar Tagen stieß ich auf einen Titel, »Jackpot«, wo man Richard Burton und Charlotte Rampling zusammen auf der Leinwand hätte sehen können. Terence Young versicherte, er hätte nur noch eine Woche gebraucht, um ihn fertig zu stellen.

Besonders faszinierend ist es natürlich, wenn die Filme tatsächlich bereits abgdreht waren; diese Liste beginnt noch in der Stummfilmzeit, als Produzent Charlie Chaplin entschied, sämtliche Kopien von Josef von Sternbergs »A Woman of the Sea« zu vernichten. In den letzten Jahren verlängert sie sich in atemraubendem Tempo. Den Dammbruch stellte 2017 „Gore“ dar, den Netflix kurzerhand aufgab, als die ersten Anschuldigungen gegen den Hauptdarsteller Kevin Spacey laut wurden. Dessen Nimbus als Star von »House of Cards« war es ursprünglich zu verdanken gewesen, dass die Verfilmung des Romans von Jay Parini (über seine Jahrzehnte lange Freundschaft zu Gore Vidal) grünes Licht bekam. Regisseur Michael Hoffman war verblüfft, denn er hatte 20 Jahre gebraucht, um sein Tolstoi-Projekt „»The Last Station« (Ein russischer Sommer, mit Christopher Plummer und Helen Mirren) auf die Beine zu stellen - und nun erhielt er das Ja-Wort binnen Minuten. Spacey war zu dessen Lebzeiten mit dem Schriftsteller befreundet und sagte augenblicklich zu. Sein Filmpartner Michael Stuhlbarg soll sich dem Vernehmen nach schon Hoffnungen auf einen Nebendarsteller-Oscar gemacht haben.

»Gore« sollte der erste Prestige-Film der Streamingplattform werden. Auch hinter der Kamera war er prominent besetzt mit Oliver Stapleton als Kameramann und Patrizia von Brandenstein als Szenenbildnerin. Das Budget von 12 Millionen Dollar war zwar knapp bemessen für einen Film, der hauptsächlich an Originalschauplätzen in Europa entstehen sollte. Aber sogar für die Renovierung von Vidals verfallener Villa an der Amalfi-Küste reichte es. Der Film war nach 35 Drehtagen im Kasten. Die Vertreter von Netflix liebten die Muster, die Editorin Camilla Toniolo hatte den Rohschnitt schon kurz nach Drehende fertig und die Nachproduktion (inklusive der Aufnahme von Simon Boswells Partitur) war im Oktober 2017 praktisch abgeschlossen. Dann kam das Nein-Wort. "Netflix wanted us dead, wanted us gone" sagte die Cutterin. Der Streamer entschied sich, den Film komplett zu begraben und lehnte später auch sämtliche Angebote ab (durchaus lukrative in der Größenordnung von 20 bis 30 Millionen), ihn zu verkaufen. Trotz der erklecklichen Verluste wiesen seine Bilanzen im Jahr darauf erstmals Profit auf.

Das Beispiel, teure Produktionen als Steuerabschreibung zu verbuchen, machte Schule. Insbesondere die neue Leitung von Warner Bros tat sich hier großspurig hervor, das geschasste »Bat Girl« ist nur ein Beispiel unter vielen. (Sie scheint ohnehin mächtig daran interessiert zu sein, dass ihre Produktionen im Kino unsichtbar bleiben, man denke etwa an Eastwoods »Juror No. 2«.) Hollywood Majors haben wohl trotz diverser Krisen noch immer tiefe Taschen. Ich vermute, für den Franzosen Philippe Carcassone gilt das nicht. Er hat 2023 die Simenon-Verfilmung »Belle« (nach »Bellas Tod«) seines alten Freundes Benoit Jacquot produziert. Nachdem Judith Godrèche den Regisseur der Vergewaltigung beschuldigte und ihn weitere Darstellerinnen sexueller Übergriffe ziehen, ist er zur Persona non grata geworden. Sein Hauptdarsteller Guillaume Canet distanzierte sich öffentlich vom Film, der eigentlich im Frühjahr 2024 herauskommen sollte. Charlotte Gainsbourg, seine Partnerin, hielt sich zunächst bedeckt. Auf der Seite von "Allociné" wird »Belle« noch als "Prochainement en salle" geführt. Aber ein Start in Frankreich scheint meines Erachtens ausgeschlossen. Laut der französischen Wikipédia lief er im November 2024 auf dem Festival von Fort Lauderdale. In der Festivalbroschüre werden tatsächlich zwei Vorführtermine genannt. In Italien startete »Il caso Belle Steiner« am 13. März dieses Jahres mit 50 Kopien und verkaufte in den ersten vier Wochen immerhin beachtliche 60000 Kinokarten. Die Chefin des Verleihs „Europictures“, Lucy de Crescenzo, hatte ihn 2023 im Markt von Cannes gesehen und gemocht. Das war lange vor dem Skandal. Ein kleiner Verleih wie der ihre sei ökonomisch verpflichtet, einen Film herauszubringen, für den er viel Geld bezahlt hätte, betonte sie im Interview mit "Télérama". Außerdem sollte man das Werk vom Schöpfer trennen. Allerdings, klagte sie, habe der Start sie vor ein Riesenproblem gestellt: Weder der Regisseur noch die Stars standen für die Interviews zur Verfügung.

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