Sound Design: So klingt die Wüste

»Sirât« (2025). © Pandora Film / QuimVives

»Sirât« (2025). © Pandora Film / QuimVives

Diese Filme muss man gehört haben: »Sirât« und »In die Sonne schauen«, beide Cannes-Preisträger, verblüffen durch eine ­außergewöhnliche Tongestaltung. Gerhard Midding über die Künstler am Mischpult

Die ersten Bausteine werden augenblicklich gelegt. Es handelt sich um Lautsprecherboxen, die von geübten Händen schnell aufeinandergestapelt werden, bis sie eine Mauer bilden. Die türmt sich bald so hoch, dass sie dem Felsmassiv ebenbürtig scheint, das sie später beschallen wird. Im Nirgendwo der marokkanischen Berge findet ein Rave statt. Die wall of sound, die dazu errichtet wird, setzt dem Hochgefühl der Raver keine Grenzen. Sie fügt sich in eine Landschaft, die nun noch irrealer wirkt. Es ist fast so, als lege Sound Designerin Laia Casanovas in der Eröffnungsszene von »Sirât« ihre Karten offen auf den Tisch. 

Musik und Geräusche bewegen sich im Film von Oliver Laxe magisch aufeinander zu. Meist lässt sich nicht sicher bestimmen, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Diese Mehrdeutigkeit ist freilich auch eine Frage der Position. Die Tanzenden hören den Rhythmus. Für Luis jedoch, der verzweifelt nach seiner Tochter sucht, ist alles nur Lärm. Aus der Ferne sind die Beats ein unaufhörlich pochendes Geräusch. Das Sound Design markiert die Fortbewegung der Figuren im Raum, es ist ihr Motor, ihre kinetische Legitimation. Am Ende wird ihre Reise sie in die Wüste führen: in die Leere, in der eigentlich nur der Wind zu hören sein müsste.

In Cannes teilte sich »Sirât« den Preis der Jury mit »In die Sonne schauen« von Mascha Schilinski, und es ist nicht allzu weit hergeholt zu behaupten, beide hätten die Auszeichnung auch ihrer eindringlichen Tondramaturgie zu verdanken. Das Sound Design von Billie Mind in Schilinskis Film bewegt sich in ganz anderen Koordinaten von Raum und Zeit. Die Handlung umfasst mehr als ein Jahrhundert, changiert zwischen vier Zeitebenen, in denen vier Generationen von Mädchen auf einem Bauernhof in der Altmark heranwachsen. Es werden gleichsam die Lebenszyklen eines Ortes erzählt, und man geht nicht fehl, sich daran zu erinnern, dass das Gehör der erste Sinn ist, der bereits im Mutterleib ausgeprägt ist.

Billie Minds Tongestaltung ist empfindsam für die Kulisse, die das geschäftige Treiben auf dem Hof hergibt; sie hat auch ein Ohr für die Klangwelt der Natur. Die Tondramaturgie ist unauflöslich verknüpft mit der Wahrnehmung der jungen Protagonistinnen, die gern durch einen offenen Türspalt blicken oder ein Schlüsselloch. Ihr Design ist ein Instrument der Neugier, die vorausahnt und den verborgenen Zusammenhängen nachspürt, die das Erwachsenenleben prägen werden. »In die Sonne schauen« ist gewissermaßen der Gegenfilm zu »Das weiße Band« von Michael Haneke, für den der Tonkünstler Guillaume Sciama eine unverwechselbar norddeutsche, protestantische Stille einfing. Denn in Schilinskis Film wirkt eine akustische Kraft, die an dem Ort zunächst nicht ansässig scheint. Die Tonspur birst vor rätselhaften Lauten, einem Knistern, Raunen und Grollen.

Das Sound Design ist ein Fremdkörper, der sich souverän behauptet. Der Begriff wurde aus der Verlegenheit geboren. Wie so oft sind die strengen Regularien der amerikanischen Gewerkschaften daran schuld. Der junge Walter Murch gehörte noch keiner von ihnen an, als er 1969 bei »Liebe niemals einen Fremden« (The Rain People) den Ton schnitt und abmischte. Francis Ford Coppola wollte jedoch unbedingt, dass sein Beitrag im Vorspann gewürdigt wurde. Also schlug Murch dem Regisseur den Titel »Sound Designer« vor. Als Berufsbezeichnung etablierte er sich anfangs schleppend; lange Zeit wurde er von eingesessenen Tonkünstlern beargwöhnt, denn er klang hochtrabend übergeordnet und schien ihre eigene Mitwirkung zu schmälern.

In der Tat benennt er eine ästhetische Gesamtkonzeption, die Pflicht und Kür umfasst. Zunächst einmal schafft der Ton ein Sicherheitsnetz: Er dient der Bestätigung des Sichtbaren. Die Inszenierung der Klänge lässt ein Ambiente entstehen, dessen Fülle an Details den Eindruck erweckt, man sei wirklich dort. Die Arbeit ähnelt durchaus der eines Komponisten, der Töne zusammenfügt und ordnet. Der Toningenieur trifft eine Wahl und verortet die Klänge im Raum. Er tariert in jeder Szene die Balance zwischen Dialog, Geräusch und Musik neu aus. Das Sound Design geht darüber hinaus. Seine Interpretation ist freier, es unterstreicht das Vorhandene nicht einfach, sondern manipuliert es. Es verstärkt oder dämpft Töne und kann eine atmosphärische Fülle schaffen aus Klängen, die keinen sichtbaren Ursprung in der Szenerie haben. Seine Kunst besteht in der Anreicherung des Klangraums mit Details, die dramatisch oder beklemmend und auf jeden Fall provozierend sind. Es ist eine suggestive Kraft, die die Wahrnehmung steuert. Die Tonspur wird durchlässig für Geräusche, denen man sonst kaum Beachtung schenkt: Auf ihr erhält Präsenz, was wir üblicherweise aus der Reizüberflutung des Alltags hinausfiltern. Sound Design begreift das Hörbare als eine Botschaft, die in einer eigens geschaffenen Realität widerhallt.

Diese ästhetische Entgrenzung schlägt sich in den kreativen Zuständigkeiten nieder. Walter Murch, den die musique concrète stärker beeinflusste als die Filmgeschichte, war bei »Apocalypse Now« auch für die Auswahl und den Einsatz bereits existierender Musikstücke verantwortlich (Wagners »Walkürenritt« stand allerdings schon im Drehbuch) und engagierte für einige Szenen eigens Schlagzeuger. In diese Klangkulisse musste sich danach die weitgehend auf Synthesizer eingespielte Partitur von Carmine Coppola einfügen. Die Grenzen zwischen Musik und Geräusch sind seitdem zusehends fließender geworden. Sinfonische Partituren eignen sich hierfür nicht, elektronische sehr wohl – zumal wenn sie mit drones (Haltetönen) arbeiten, löst sich der Unterschied zwischen Note und Laut auf.

Das Sound Design ist ohnehin ein Phänomen der Verschmelzung. Es fügt die Klänge nicht einfach nur zu labyrinthischen Collagen zusammen, sondern geradewegs zu Clustern, in denen einzelne Töne nicht mehr zu bestimmen sind. Ihre Wucht verdankt sich der Undefinierbarkeit. Auch der Lärm ist eine Botschaft. Einfach auf die Schliche zu kommen ist ihr nicht.

Für Regisseure ist der Einsatz von Sound Design eine Geste, mit der sie stolz ihren Gestaltungswillen demonstrieren können: Hört her, ich schaffe meine eigene Welt! Nicht von ungefähr erlebte es seinen Durchbruch in einer Epoche, in der Regisseure selbst zu Stars wurden. In den späten 1970ern formiert sich das New Hollywood, um für das Blockbuster-Zeitalter gerüstet zu sein. Die Generation der ehemaligen Filmstudenten erforscht eingehend die Möglichkeiten, die sich dem Filmton namentlich mit der Einführung der neuen Dolby-Vorführtechnik eröffnen. Bereits »Der Dialog« von Coppola und Murch ist 1974 ein Meilenstein, in dem es thematisch um die Enträtselung von Geräuschen und Dialogen geht. Nun kommen in dichter Folge »Krieg der Sterne«, »Unheimliche Begegnung der Dritten Art«, »Alien« und »Apocalypse Now« heraus. Auf je eigene Weise verhandeln sie die Konfrontation mit dem Fremden, Unbekannten. Zeitgleich wird mit »Eraserhead« von David Lynch das Sound Design zu einem Spielfeld der Avantgarde. Die Hörgewohnheiten im Kino werden aus den Angeln gehoben. Die Tonspur hört auf, unsichtbar zu sein.

Einer der ersten gestalteten Soundeffekte, die das breite Publikum wahrnehmen konnte und sollte, ist das Schlagen der Rotoren eines Hubschraubers zu Beginn von »Apocalypse Now«. Es erklingt in irritierender Zeitlupe, bevor es in das Surren eines Ventilators überblendet wird. Walter Murch nutzt Toneffekte als Scharniere zwischen Traum- und Wachzuständen. Er schichtet gern Ebenen übereinander, um zu einer Subjektivierung der Erzählung zu gelangen. Der halluzinierte Auftakt im Hotelzimmer in Saigon führt in eine mentale Landschaft, in der Orientierung schier unmöglich ist. »Apocalypse Now« hat mit »Sirât« gemein, dass sich im Sound Design tatsächlich eine Entwicklung vollzieht. Das ist eher selten, meist bleibt es eine Setzung, die gegebenenfalls modifiziert wird oder sich wie eine Gedankenschleife wiederholt. Murch hingegen vertont die Reise durchs vietnamesische Kriegsgebiet in einem Wechselrhythmus von traumhaften Klangschwaden und blitzschnell einbrechender Gewalt – im Dschungel kündigen sich Gefahren nicht immer akustisch an. Am letzten Außenposten der US-Truppen kulminiert die Tondramaturgie in einem präzise orchestrierten Tumult aus Gefechtslärm, Schreien und Musik. Muss es verwundern, dass in diesem bösen Rausch ein GI fragt: »Hörst du den Stacheldraht?«

In »Eraserhead«, der nicht weniger stilbildend sein sollte, erklingen zwei Jahre zuvor noch weit unerhörtere Töne. Wiederum ist es eine mentale Landschaft, die akustische Gestalt annimmt. Alle Gegenstände scheinen hier belebt, das Ambiente pocht, hämmert, stöhnt und ächzt; elektrische Geräte summen lautstark. Sound Designer Alan Splet entwirft eine surreale Urbanität, deren Grundrauschen industrieller Herkunft ist, aber dank eines monströsen Neugeborenen und schmatzend auslaufenden Blutes auch einen kreatürlichen Aspekt gewinnt. Oft ist es so laut, dass die Figuren ihre Dialoge herausschreien müssen. Eine prächtige atmosphärische Tortur. Der letzte Tonschnitt, das brüske Abbrechen des Lärms, ist folgenreich für das Sound Design: Es entdeckt, dass die Stille eines ihrer machtvollsten Instrumente ist. In ihrem nächsten Film »Der Elefantenmensch« stoßen Lynch und Splet zu den historischen Wurzeln des Industriezeitalters im viktorianischen England vor. Auch nach dem Tod des Sound Designers geht es im Werk des Regisseurs raunend weiter.

Sound Design bewährt sich nicht in allen Genres. Im Actionfilm und Thriller lässt es sich nur bedingt einsetzen, denn mit ihm geht eine beträchtliche Entschleunigung einher. (Christopher Nolan würde hier gewiss lebhaft widersprechen, aber seine Filme sind ja auch immer sehr lang.) Im Dokumentarfilm hingegen lässt es sich überraschend heimisch machen. Schrittmacherdienste leistete Errol Morris (»The Thin Blue Line« / »Der Fall Randall Adams«, »The Fog of War«). Er setzt systematisch nachsynchronisierte Geräusche ein, die verstärkt, verfremdet oder stummgeschaltet werden. Sie vertragen sich gut mit den minimalistischen Scores, die Philip Glass für ihn komponiert.

Eine besondere, ja elementare Affinität hat das Sound Design zum Horrorfilm, wie unlängst etwa das pechschwarze Wabern in Robert Eggers' »Nosferatu«-Remake demonstrierte. Die Fähigkeit, die Entfernung zu bedrohlichen Geräuschen einzuschätzen, hat sich in der Menschheitsgeschichte als überlebenswichtig erwiesen. Mithin ist sie auch im Kriegsfilm entscheidend. In diesem Genre lässt sich eine Linie ziehen, die bereits in »Apocalypse Now« angelegt ist: das subjektive Erleben. Von Elem Klimows »Komm und sieh« über »Der Soldat James Ryan« bis zu »Warfare« zielt das Genre zusehends auf Immersion. Die Furcht vor dem Verlust von zivilisatorischer Kontrolle wiederum, die bei Coppola und Murch anklingt, setzt sich in der filmischen Auseinandersetzung mit der Schoah fort.

Keine Verwendung von Sound Design hat in den letzten Jahren so starkes Aufsehen erregt und so lebhafte Debatten ausgelöst wie Johnnie Burns' Arbeit in »The Zone of Interest«. Jonathan Glazers Film ist eingangs ein rumorendes Klanggebilde, bevor er nach der Ouvertüre die ersten eigentlichen Bilder findet. Im pastoralen Idyll der Eröffnungssequenz wirkt die Naturkulisse lautstark überhöht zu einem aggressiven Impressionismus. Diesem Film ist kein Laut selbstverständlich. Der Alltag der Familie Höß in ihrem Wohnhaus beim Konzentrationslager Auschwitz ist als eine einzige, unablässige Dissonanz angelegt. Die Tonspur erhebt empört Einspruch gegen ihre Verdrängung der Gräuel, die hinter der Mauer stattfinden. Sie setzt den Filter außer Kraft, der sie gegen das Grundrauschen der Massenvernichtung abschirmt. Burn recherchierte mehrere Jahre lang, wie es 1943 in Auschwitz klang, und hat seine Funde in einem Tondrehbuch festgehalten, das 600 Seiten lang ist. Sein Design dient als Triebkraft einer hintergründigen Wahrnehmung, die kein Entkommen zulässt vor dem Schrecken der menschenverachtend schnarrenden Befehle, der Exekutionen und Schmerzensschreie. Die Augen kann man verschließen im Kino, aber wer hält sich dort schon die Ohren zu?

In »Son of Saul« zeigt László Nemes, was bei Glazer unsichtbar bleibt. Sein erzählerisches Ethos ist die Unmittelbarkeit. In langen Plansequenzen begleitet der Film seinen Protagonisten Saul Ausländer durch die Agonie des Vernichtungslagers. Tamás Zányis Sound Design begibt sich ins Schlepptau dieser visuellen Unnachgiebigkeit. Ohne Unterlass dringen auf Saul fremde Appelle ein, die Kakophonie wird zu einem Strudel, der ihn heillos mitreißt. Hierbei gewinnt die menschliche Stimme ein besonderes Gewicht. Sie erklingt im Verborgenen, aus Furcht vor Bestrafung wird nur hastig und im Flüsterton gesprochen. Die Sprache wird zur Geste des Widerstands, denn Saul verfolgt ein unbedingtes Ziel: Er will, dass für seinen Sohn, dessen Leichnam er vor dem Krematorium bewahrte, ein Kaddisch gesprochen wird.

Das Sound Design sperrt die Tür zum Maschinenraum der Welt auf. Dafür begibt es sich in den Untergrund, steigt in Keller hinab, wagt sich in Höhlen vor, um dem Gehör zu verschaffen, was sich vor dem Tageslicht verbirgt. Auch der labyrinthische Vierseithof in »In die Sonne schauen« hat seine dunklen Räume. Es nistet etwas Morbides in diesem Haus, eine kindliche, jugendliche Faszination an Sterblichkeit und Jenseits. Die Welt entrückt, wenn man unter Wasser taucht, erst ist sie noch gedämpft zu hören, dann verschwindet sie. Billie Minds Tondramaturgie ist Vorahnung und deren Erfüllung: Die Geräusche, deren Herkunft zunächst ein Rätsel ist, lassen sich den Elementen zuordnen.

»Son of Saul« (2015). © Sony Pictures

Die Reise in »Sirât« findet oberirdisch statt, aber auch Gebirge und Wüste können ein Verlies sein. Das Verhängnis ist einfallsreich und gnadenlos in diesem Film. Laia Casanovas Sound Design wandelt sich im Verlauf. Kurzfristig übernimmt es die konventionellen Aufgaben von Filmmusik, unterstreicht Emotionen, erzeugt Spannung. Unberechenbar bleibt es bis zum Schluss. In einem angespannten Moment fast am Ende ertönt plötzlich ein irritierend ulkiger Laut, der der Situation völlig unangemessen scheint: eine Art elektronischer Seufzer, der aber eher wie Sprudeln oder Blubbern klingt. Wie im Himmel kam Casanovas nur auf diese Idee? Aber darin bestehen Aufgabe und Vorrecht ihrer Kunst: Sie soll stören.

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