Kritik zu In die Sonne schauen

© Neue Visionen Filmverleih

Mascha Schilinskis preisgekrönter Cannes-Erfolg erzählt von vier Mädchen, die im Laufe eines Jahrhunderts auf demselben Bauernhof leben. Ein epischer Ansatz – verbunden mit einer malerischen Bildsprache

Bewertung: 5
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Welches Geräusch machen Holzschuhe auf einem Fliesenboden? Was sieht man, wenn man an einem sonnigen Ferientag in einem trägen kleinen Fluss untertaucht? Wie fühlt sich Schweiß an, der sich im Bauchnabel eines Schlafenden gesammelt hat, oder ein glitschiger Fisch in einem Bottich? In Mascha Schilinskis Film spielen solche sinnlichen Impressionen eine große Rolle. Hier können die Geräusche und Bilder – manchmal unscharf oder flusig wie das Licht in einer Scheune, in der Heu- und Staubpartikel durch die Luft treiben – beim Publikum einen ähnlichen Effekt auslösen, wie der Geschmack der Madeleine bei dem Erzähler in Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«: Sie triggern Erinnerungen. Und zwar quer durch die Jahrzehnte – auch solche an Zeiten, die wir nicht selbst erlebt haben. Eine verrückte Vorstellung.

Die Idee zu »In die Sonne schauen« ist Schilinski und ihrer Co-Autorin Louise Peter gekommen, als sie ein paar Monate auf einem Bauernhof in der Altmark verbrachten. Wie hat man hier wohl gelebt, genauer: Wie ist es den Frauen ergangen? Die Erzählung spannt sich über ein Jahrhundert; sie entfaltet sich in assoziativen Schüben, mit Rücksprüngen, Vorgriffen, auf Umwegen vom Kaiserreich über den Zweiten Weltkrieg und die DDR der achtziger Jahre in die Gegenwart – mit dem labyrinthischen, düsteren Gebäude als Labor der Gefühle.

Saisonale Arbeit, Familienfeiern, Badeausflüge, Mahlzeiten strukturieren vage den an Einfällen reichen, in alle Richtungen mäandernden Film; die großen politischen Zusammenhänge erscheinen gefiltert, man muss sie sich erschließen. Auffallend ist die Nähe der Protagonistinnen – vier Mädchen oder junge Frauen, die jüngste sieben Jahre alt, die älteste (Lena Urzendowsky) bereits im Clinch mit ihrer Sexualität – zum Tod: Selten hat man einen Frauenfilm gesehen, der so neugierig, wenn nicht fasziniert auf versehrte Körper, Leichen und Beerdigungsrituale blickt, der seinen Heldinnen mitten im Leben so harsch den Boden unter den Füßen wegzieht – »Sound of Falling«, der internationale Titel, ist tatsächlich der passendere.

Die kleine Alma (Hanna Heckt) muss sich in einer religiösen, streng organisierten Bauernfamilie damit auseinandersetzen, dass sie nach einer früh verstorbenen Schwester benannt wurde; sie fürchtet, ihr stehe das gleiche Schicksal bevor. Erika (Lea Drinda) fühlt sich auf morbide Weise zu ihrem Onkel hingezogen, den die Familie brutal, durch Verstümmelung, dem Krieg entzogen hat. Und selbst Nelly (Laeni Geiseler), die mit ihrer unbeschwerten Berliner Macchiato-Familie auf den Hof gezogen ist, steckt in einer Krise: Ihre jüngere Schwester hat Suizidfantasien, sie selbst misst sich an einer neuen Freundin, die den Krebstod ihrer Mutter mit heroischem Gleichmut hinzunehmen scheint.

Die strukturelle Gewalt, der sie alle ausgesetzt sind und die sie auf unheimliche Art verbindet, verändert sich im Lauf des Jahrhunderts, von Generation zu Generation. Anfangs sind es regelrechte Zwangsverhältnisse – eine ältere Schwester von Alma wird als Magd an einen anderen Bauern verschachert – und Handgreiflichkeiten, später unhinterfragte Rollenmuster, toxische Männer, Gefühle der Vereinzelung inmitten einer betriebsamen Gesellschaft. Triste Aussichten? Den unglücklichen Erfahrungen seiner Protagonistinnen begegnet der Film, indem er vorbehaltlos ihre Wahrnehmung feiert: einen sensiblen, genauen, dabei milden Blick und ein Gehör für subkutane Töne, Knistern, Pochen und ein rätselhaftes Brummen, den Drone des Lebens, wenn man so will.

Da kann es schon mal vorkommen, dass die Kamera in einer ununterbrochenen Kreisfahrt durch Diele, Küche, Stuben plötzlich in einer anderen Ära landet. Dass Vergangenes oder Künftiges in das klassische 4:3-Format der Bilder einblutet. Und überhaupt könnte die Bildgestaltung (Fabian Gamper) mit den malerisch-soften Farben und dem auffallenden Korn ein Einspruch sein gegen den grotesken Hyperrealismus, der in unserer Zeit der hochauflösenden Streams und gigantischen Fernsehbildschirme herrscht, gegen ein Regime der Klarheit und Eindeutigkeit, das der Arbeit des menschlichen Auges eigentlich fremd ist. Mit der gezielten Verschiebung der Wahrnehmung etabliert »In die Sonne schauen« einen Raum, in dem auch Immaterielles erscheinen kann: Gefühltes, Geahntes, Geträumtes. Ist das jetzt eine feministische Ästhetik? Kann man so sehen.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt