Brasilianisches Kino: Poetik des Widerstands
»Das tiefste Blau« (2025). © Guillermo Garza / Alamode Film
Das brasilianische Kino beschert uns gerade eine Welle großer Filme. Ein Überblick in neun Kurzporträts
Das brasilianische Kino erlebt derzeit eine bemerkenswerte Phase der Erneuerung – ästhetisch, politisch und international. In den letzten Jahren hat sich eine Generation von Filmemacher*innen hervorgetan, die mit entschiedener künstlerischer Handschrift auf die sozialen und politischen Brüche ihres Landes reagiert. Ihre Filme sind laut und leise zugleich, geprägt von Zorn, Zärtlichkeit und einem unbedingten Willen, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Auf internationalen Festivals von Cannes über Berlin bis Rotterdam feiern sie beachtliche Erfolge. Im März gewann mit »Für immer hier« von Walter Salles gar ein brasilianischer Beitrag den Oscar als bester internationaler Film. Doch hinter diesen Erfolgen steht ein Kino, das nicht aus institutioneller Stabilität heraus entstanden ist, sondern aus Widerstand, Not und dem Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, die sonst verloren gingen.
In der Regierungszeit des Rechtsextremen Jair Bolsonaro (2019-22) war die Filmindustrie in Brasilien massiven Einschnitten ausgesetzt. Fördergelder wurden eingefroren, kulturelle Institutionen systematisch geschwächt, und viele Filmprojekte konnten nur dank internationaler Koproduktionen oder regionaler Initiativen realisiert werden. Paradoxerweise führte gerade dieser Druck zu einer neuen Unabhängigkeit des Kinos: Viele Regisseur*innen fanden alternative Wege der Finanzierung und Distribution, nutzten kleine Produktionsnetzwerke und partizipative Strukturen. Das Ergebnis ist ein Kino, das inhaltlich radikaler und formal experimentierfreudiger geworden ist. Und das damit auch international Aufsehen erregt.
Thematisch kreisen viele der neuen Filme um Fragen von Identität und Erinnerung. Produktionen wie »Bacurau« oder jüngst »Das tiefste Blau« entwerfen dystopische Zukunftsvisionen, in denen sich das politische Klima Brasiliens spiegelt. Andere entreißen die Vergangenheit dem Vergessen oder lassen Realität und Fiktion ineinanderfließen, um Machtstrukturen offenzulegen. Das brasilianische Kino ist heute nicht bloß ein Spiegel der politischen Lage, sondern selbst ein Akteur im kulturellen Kampf um Sichtbarkeit und Erinnerung. Es antwortet auf autoritäre Tendenzen mit ästhetischer Freiheit, auf gesellschaftliche Spaltung mit kollektiver Erzählkraft. Wir stellen einige der wichtigsten Stimmen dieser Bewegung vor.
Wagner Moura
Wagner Moura, 1976 in Salvador da Bahia geboren, verkörpert eine seltene Verbindung aus Charisma, Intellekt und moralischer Haltung. International berühmt wurde er als Pablo Escobar in der Netflix-Serie »Narcos« (2015-16) – eine Rolle, für die er eigens Spanisch lernte und sein äußeres Erscheinungsbild radikal veränderte. Diese kompromisslose Hingabe an Authentizität zieht sich wie ein roter Faden durch seine Laufbahn.
In seiner Heimat war er längst ein kulturelles Symbol, bevor ihn die Weltöffentlichkeit entdeckte. Mit Filmen wie »Tropa de Elite«, der 2007 den Goldenen Bären der Berlinale gewann, und »Carandiru« (2003) prägte er das zeitgenössische brasilianische Kino – roh, politisch und von einer unbestechlichen Menschlichkeit durchdrungen. In Kleber Mendonça Filhos »The Secret Agent« liefert Moura jetzt eine neue Facette seines Spiels: eine Figur am Abgrund, die zwischen Paranoia und stoischer Würde pendelt. Moura, der ursprünglich Journalismus studierte, versteht Kunst als moralisches Projekt. Seine Regiearbeit »Marighella« (2019), ein leidenschaftliches Porträt des gleichnamigen Widerstandskämpfers, ist auch ein Bekenntnis zu Demokratie und Unabhängigkeit in Zeiten der Verrohung. Seit »Narcos« ist er auch international gefragt, mit Rollen im Thriller »Wasp Network« (Olivier Assayas, 2019) und zuletzt in Alex Garlands »Civil War« (2024). Damit steht er exemplarisch für eine Generation lateinamerikanischer Künstler, die sich nicht zwischen lokaler Verwurzelung und globaler Relevanz entscheiden wollen.
Kleber Mendonça Filho
Schon seine frühen Kurzfilme zeigten ein Gespür für die sozialen und architektonischen Räume seiner Heimat. Der internationale Durchbruch gelang ihm 2012 mit »Von großen und kleinen Haien«, einem präzisen Porträt der urbanen Mittelschicht von Recife, das hinter Zäunen und Sicherheitssystemen die unterschwellige Gewalt des Alltags sichtbar machte. »Aquarius« (2016) erzählte dann vom individuellen Widerstand gegen ökonomische Machtstrukturen; die Geschichte einer Frau, die sich weigert, ihre Wohnung zu verkaufen, wurde zum Sinnbild bürgerlicher Unabhängigkeit. Mit »Bacurau« (2019), gemeinsam mit Juliano Dornelles inszeniert, erreichte er eine neue Radikalität: Der Film ist eine groteske Parabel über ein Dorf, das von der Landkarte verschwindet und sich gegen seine Auslöschung verteidigt. Hier verschmelzen Western, Science-Fiction und Politthriller zu einem neuen, wilden Kino. Sein jüngster Film »The Secret Agent« (2025) führt diesen Weg konsequent fort. In einem dichten Neo-Noir-Panorama der späten brasilianischen Militärdiktatur verknüpft Mendonça Filho politische Paranoia mit existenzieller Intimität. Überwachung, Verrat und Erinnerung werden zu Spiegeln eines Landes, das seine eigene Geschichte noch nicht verdaut hat. Damit geht er für Brasilien ins Oscar-Rennen.
Gabriel Mascaro
Der Film entwirft eine nahe Zukunft, in der die brasilianische Regierung ältere Menschen zwangsweise in eine abgelegene »Kolonie« umsiedelt. Die 77-jährige Tereza widersetzt sich dieser Politik und begibt sich auf eine Reise den Amazonas hinab – ein stilles, aber entschlossenes Aufbegehren gegen staatliche Kontrolle und gesellschaftliche Auslöschung. Mascaros Kamera gleitet dabei wie der Fluss selbst: ruhig, von Licht durchdrungen, mit einer Mischung aus Melancholie und Widerstandskraft.
An Terezas Seite steht Rodrigo Santoro als Flusspilot Cadu, der sie zunächst aus Berechnung begleitet. Santoro, mit der Comicadaption »300« und der Science-Fiction-Serie »Westworld« längst international erfolgreich, spielt mit zurückhaltender Intensität, die sich langsam zu einer stillen Empathie entfaltet. Getragen von seiner feinen Präsenz und Mascaros visuell-poetischer Konsequenz, wird »Das tiefste Blau« so zu einem berührenden Gleichnis über Würde, Alter und Freiheit.
Karim Aïnouz
Fernanda Torres
Juliana Rojas
Marcelo Caetano
Marianna Brennand
Brennand spricht von »Verantwortung« gegenüber ihren Figuren, aber auch dem Publikum. Ihre Biografie erklärt diese Haltung: die frühe Auseinandersetzung mit kultureller Identität, die Geduld des Dokumentarfilms, die Erfahrung, dass Kunst Räume für Stimmen schafft, die sonst ungehört bleiben.
Petra Costa
Mit ihrem jüngsten Werk »Apokalypse in den Tropen« (2024) verschiebt Costa den Fokus. Der Film untersucht den Aufstieg evangelikaler Bewegungen und ihre Allianz mit der Politik, verkörpert durch den Prediger Silas Malafaia, einen engen Vertrauten Jair Bolsonaros. Zwischen Massenszenen auf den Straßen und intimen Beobachtungen verwebt Costa theologische Metaphern, Archivbilder und eigene Reflexionen zu einem visuell fragmentierten Essay über brasilianische Gegenwart.
In einer von männlichen Regisseuren geprägten Filmszene markiert Costa eine außergewöhnliche Position: introspektiv, aber nie unpolitisch; subjektiv, ohne sich in Selbstbespiegelung zu verlieren. Ihre Filme sind Melancholie und Widerstand zugleich, Erinnerungsmaschinen, die die Brüche Brasiliens freilegen. Mit Apokalypse in den Tropen erweist sich Costa nun endgültig als öffentliche Intellektuelle und filmische Chronistin, die nicht nur erzählt, sondern ihre Heimat befragt und provoziert.








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