Deutscher Film – so cool

Ninel Geiger in »In die Sonne schauen« (2025). © Studio Zentral

Ninel Geiger in »In die Sonne schauen« (2025). © Studio Zentral

Wir prognostizieren: Im Herbst läuft das Kino bei uns zu großer Form auf. Junge Talente neben Etablierten, ­Episches, Experimentelles, Persönliches, Politisches – opulent oder minimalistisch

Irgendwo ankommen, das wünschen sich privat oder im Job viele. Für die Kunst allerdings ist Ankommen Stillstand, und Stillstand ist ihr Tod. Sie braucht Rastlosigkeit, Wagemut und Subversion. Dass das deutsche Kino gegenwärtig unangekommener denn je scheint, ist also in jedem Fall eine gute Nachricht. Es wuselt und kreucht, es probiert herum und mäandert produktiv, wie der Drifter, dem Willy Hans in seinem Langfilmdebüt »Der Fleck« folgt. 

Der Adoleszente mit falschrum angezogenem T-Shirt geht zu Filmbeginn gar nicht erst zum vom Takt der Trillerpfeife gepeitschten Sportunterricht, sondern verlässt die Schule, raucht und grüßt ein Mädchen, das mit einer Gruppe abhängt. Zu Hause matscht er Katzenfutter platt, pustet eine Feder über seinem Bett in die Luft oder spielt mit seiner ihn überall hinbegleitenden Plastikwasserflasche: der filmgewordene sommerliche Müßiggang mit einem Kennenlernen in der Natur in einem flirrend experimentellen Coming-of-Age-Film, der selbstbewusst mit Genre-Tropen jongliert und doch einen völlig eigenen Zugang findet. 

Beim Filmfestival in Locarno wurde »Der Fleck« mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Dort wurde auch Helena Wittmanns ­»Human Flowers of Flesh« (2022), eine Reflexion über Erzählkonventionen und das Verhältnis von Mensch und Natur, als einer von zehn »Films After Tomorrow« ausgewählt. Studiert haben beide an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, produziert wurden ihre Arbeiten von Fünferfilm, einer kleinen Produktionsfirma, die sich auf unkonventionelle Autorenfilme spezialisiert hat.

Gerade ist viel in Bewegung. Hatte man vor einigen Jahren noch das Gefühl, dass es zwischen Schweiger-Schweighöfer-Mainstream und festivaltauglichem, künstlerischem Sozialrealismus wenig anderes gab, so ist das deutsche Kino aktuell – allen Problemen mit der Reform des Filmfördergesetzes zum Trotz, die nicht kleingeredet werden sollen – so experimentierfreudig und divers wie seit langem nicht mehr. Zudem sind deutsche Filme und Talente international wieder sichtbarer, wie die Karriere von Nora Fingscheidt (»The Outrun«) beweist. Und in diesem Jahr gab es ein prominentes, stark kommentiertes deutsches Triple beim Filmfestival in Cannes, dem Leuchtturm im A-Festival-Betrieb. 

Dort präsentierte Christian Petzold, eigentlich Stammgast auf der Berlinale, sein neues Drama »Miroirs No. 3« in der Nebenreihe »Quinzaine des Cinéastes«. Erneut mit Paula Beer in der Hauptrolle folgt der Film einer Klavierstudentin, die nach einem Autounfall, bei dem ihr Freund tödlich verunglückt ist, bei einer Unbekannten unterkommt. Fatih Akins »Amrum« lief in der Reihe »Cannes Premières«. Darin erzählt der Hamburger Regisseur basierend auf den Erinnerungen seines Mentors und Freundes Hark Bohm (»Nordsee ist Mordsee«, »Yasemin«) aus kindlicher Perspektive von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.

Neben diesen beiden renommierten Namen war es vor allem Mascha Schilinski, deren erst zweiter Spielfilm »In die Sonne schauen« einschlug und das jüngere deutsche Filmschaffen nach der umjubelten Premiere im Hauptwettbewerb auf die Weltbühne katapultierte. Schilinski erzählt kunstvoll und mit großer Sinnlichkeit über ein Jahrhundert hinweg – deutsches Kaiserreich, Zweiter Weltkrieg, DDR in den 1980ern, Gegenwart – von intergenerationalen Verflechtungen und den Traumata junger Frauen auf einem Bauernhof in der Altmark. Dass der assoziative Film mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, machte die Sensation komplett – nicht wenige Filmkritiker hätten Schilinski auch den Hauptpreis zugestanden. 

 Es hat sich gefühlt einiges getan, seit Timm Kröger 2023 im Wett­bewerb beim Filmfest in Venedig mit »Die Theorie von Allem« begeistert hat, einem verschroben-atmosphärischen Mysterythriller um eine ominöse Physikertagung in den Alpen mit bewusst gestreuten Reminiszenzen an das Kino von Alfred Hitchcock und Orson Welles, an den alpinen Heimatfilm der 1950er Jahre und das Paranoia-Kino. Weitere frische Regiestimmen haben das so oft totgesagte deutsche Genre- und genreaffizierte Kino belebt – nicht selten mit sehr begrenzten Mitteln. 

Sie hätten mit kleinem Budget »unter dem Radar« gefilmt, erklärten etwa der Schauspieler und Regiedebütant Denis Moschitto und sein Kompagnon Daniel Rakete Siegel zu ihrem Film »Schock« (2024), einem neonlichtgetränkten, visuell und auditiv an den frühen Nicolas Winding Refn erinnernden Thriller. Zwischen Ruhe und Gewalt erzählt »Schock« von einem Arzt, der seine Approbation wegen Drogenkonsums verloren hat und sich gegen Cash um die Nöte der Gesetzlosen kümmert. 

Das deutsche Horrorkino hat aktuell mit Tilman Singer einen ambitionierten Vertreter. Singer hatte sich bereits in »Luz« (2018), seinem Abschlussfilm an der KHM Köln, als stilbewusster Horror­regisseur mit Dario-Argento-Vibes gezeigt. In seinem auf der Berlinale uraufgeführten Film ­»Cuckoo« (2024), einer deutsch-amerikanischen Produktion, erzählte er handwerklich versiert und äußerst effektiv eine irre alpine »Frankenstein«-Variante, die am Ende mit einem monströsen Augenzwinkern freidreht. 

Benjamin Pfohl wiederum folgte in seinem Anfang 2025 ins Kino gekommenen Langfilmdebüt »Jupiter« einem Mädchen, das mit seinem Bruder und den Eltern in einer Sekte lebt, die sich zu den Sternen aufmachen will – keine Science-Fiction im klassischen Sinne, aber ein intensiver Mix aus Sektenthriller und Coming-of-Age-Geschichte, der geschickt mit Genremotiven spielt. 

Auch das Low-Budget-Kino hat nach der abgeebbten Welle des »German Mumblecore«, der deutschen Spielart eines anarchischen Improvisationskinos, Erben gefunden. Schauspieler Robert Gwisdek drehte sein Debüt »Der Junge, dem die Welt gehört« (2024), einen surreal angehauchten, tiefenpsychologischen Trip um einen Musiker auf der Suche nach der Poesie und sich selbst, komplett ohne klassische Filmförderung. Finanziell und substanziell wurde Gwisdek durch Freunde und Bekannte unterstützt. »Viele Filme sind in Deutschland nicht möglich ohne Filmförderung. Meiner ist einer von den Filmen, die mit Förderung nicht möglich wären«, erzählte Gwisdek im Interview. 

Sein ebenfalls ursprünglich vom Schauspiel kommender Kollege Fabian Stumm dreht bisher ebenfalls ohne Filmförderung. Sehr erfolgreich, denn Stumms zweiter Film »Sad Jokes« (2024) wurde nach der von Preisen begleiteten Weltpremiere beim Filmfest in München als einziger deutscher Beitrag beim Toronto International Film Festival in der Sektion »Discovery« gezeigt. Wie schon in seinem Debüt »Knochen und Namen« (2023) entwirft Stumm hier in feinfühlig inszenierten und gespielten Miniaturen ein Panoptikum menschlicher Stimmungen und emotionaler Aggregatzustände, changiert leichtfüßig zwischen Kunst und autofiktional aufgeladener Wirklichkeit und erzählt von der Liebe, von queeren Lebensentwürfen und noch viel mehr: ein im deutschen Kino aktuell einzigartiger Freejazz der Tonalitäten.

In der zweiten Jahreshälfte 2025 geht es vielversprechend weiter. Und das nicht nur wegen der erwähnten Cannes-Filme von Petzold, Akin und Schilinski, die allesamt im Sommer und Herbst starten. 

Bereits Anfang August etwa ist mit Justine Bauers »Milch ins Feuer« ein weiterer Film ins Kino gekommen, der, wie »In die Sonne schauen«, aus frischer weiblicher Perspektive erzählt ist. Bauer zeigt in ruhigen, sinnlichen Bildern das Leben von Bäuerinnen: ein feministischer Blick in ein männlich dominiertes Umfeld, an dessen Ende passenderweise Tiere kastriert werden. Dass Frauen im deutschen Kino endlich neu erzählt werden, dafür stehen auch Chiara Fleischhackers Debüt »Vena« (2024) um eine drogensüchtige werdende Mutter oder Eva Trobischs »Ivo« (2024) über eine ambulante Palliativpflegerin. 

Man kann buchstäblich dabei zusehen, wie eine sich weiter diversifizierende Regie- und Autor:innenlandschaft ein vielstimmigeres Kino befördert. Gleiches gilt für den Seriensektor, für den an dieser Stelle exemplarisch »Schwarze Früchte« stehen soll, die von Lamin Leroy Gibba erdachte Serie mit kalkuliertem Cringe-Faktor über queeres Schwarzes Leben in Deutschland. 

Eine postmigrantische Perspektive repräsentiert im Kino aktuell Burhan Qurbani, der in diesem Jahr mit »Kein Tier. So Wild«. William Shakespeares historisches Drama »Richard III.« bild- und sound­gewaltig ins Clan-Milieu der Berliner Gegenwart überführt und mit seiner Heldin Rashida, denkwürdig gespielt von der aus Syrien geflüchteten Schauspielerin Kenda Hmeidan, aus weiblicher Perspektive erzählt hat. Oder Mehmet Akif Büyükatalay, dessen zweiter Langfilm »Hysteria« Anfang November startet. Darin entzündet sich am Filmset eines Spielfilms über einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim die Diskussion, ob beim Dreh ein echter Koran hätte verbrannt werden dürfen. Wenig später verschwinden die Filmrollen und alle, die Produzentin und die Komparsen aus dem Geflüchtetenheim, hätten Gründe für die Tat. Erzählt aus der Perspektive einer Regiepraktikantin, stellt »Hysteria« im Paranoia-Modus provozierende, komplexe Fragen zu Zugehörigkeit, Kunstfreiheit und der Macht der Bilder.

Neben den experimentellen, minimalistischen oder auch wieder opulent formbewussten, thematisch vielseitigen und oft auf aktuelle Konflikte verweisenden Spielfilmen steht gegenwärtig zudem ein gesellschaftsrelevantes, diskursives Dokumentarkino. Überführte Andres Veiel mit »Riefenstahl« 2024 die Nazipropagandistin, Bildmanipulatorin und Hitleranbeterin Leni Riefenstahl mit ihren eigenen Waffen, so kommen im September dieses Jahres zwei weitere Dokumentarfilme ins Kino, die in unserer immer weiter nach rechts driftenden Gesellschaft aktueller nicht sein könnten. 

Martina Priessner blickt in »Die Möllner Briefe« auf die Folgen des rassistischen Brandanschlags von Mölln im November 1992, beleuchtet Erfahrungen der Überlebenden und erzählt von Solidarität. Und Marcin Wierzchowski begleitet in seinem Debüt »Das Deutsche Volk« Hinterbliebene und Überlebende des Anschlags von Hanau im Jahr 2020 bei ihrer Trauerarbeit, zeigt ihren Kampf um Anerkennung und die Aufarbeitung der Tat. 

Wann war der deutsche Film gut? Muss er besser werden? Preise gewinnen? Brauchen wir eine Kinematografie, die international »mithalten« kann? In einer Bildergesellschaft, die ins Transnationale strebt, die immer mehr komplexe Querbeziehungen herstellt, sind das eigentlich ziemlich altmodische Fragen. Muss man vielleicht gar nicht mehr beantworten. Besser man schaut hin: Wie sich die heimische Produktion auch formal, handwerklich öffnet. Wie sich das Bild bei Mascha Schilinski ins ungewohnte Academy-Format schmiegt, während die Kamera fluid durch labyrinthische Räume gleitet. Wie Burhan Qurbanis »Kein Tier. So Wild«. Gruppen von Menschen in weitläufigen, üppig ausgestalteten, farbsatten Räumen drapiert. Wie Regisseur:innen und Bildgestalter:innen das Schwarz-Weiß-Spektrum wiederentdecken, das Korn, den Wechsel aus Nahaufnahme und Totalen, die Fahrt ... Die Strenge der Berliner Schule und das realistische Erzählen, die das deutsche Arthousekino der letzten Jahrzehnte dominierten, sind nur noch zwei unter x künstlerischen Optionen. Damit drängen sich, neben Regie und Drehbuch, auch wieder verstärkt die anderen filmischen Disziplinen, die Gewerke, in den Fokus.

Mit Blick auf Cannes und das Filmfest Locarno ließ sich im Juli, beim Fest der Produktionsallianz in Berlin, sogar der alles andere als unumstrittene Kultur- und Medienstaatsminister Dr. Wolfram Weimer dazu hinreißen, von einem »Comeback« des deutschen Films zu sprechen. In Locarno feierten gerade unter anderem die neuen Filme »Sehnsucht in Sangerhausen« von Julian Radlmaier und die deutsch-georgische Co-Produktion »Dry Leaf« von Alexandre Koberidze Weltpremiere. Der deutsche Film verdiene deshalb, so wurde Weimer zitiert, von allem mehr: »mehr Aufmerksamkeit, mehr kreative Freiräume und mehr Glanz auf den roten Teppichen der großen Filmfestivals«. 

Und tatsächlich, er scheint es ernst zu meinen. Ende Juli begrüßte die Branche ein erstes Signal zur »Stärkung der deutschen Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb«: Das Bundeskabinett hat eine Erhöhung der Mittel des Bundes für den Deutschen Filmförderfonds (DFFF) und den German Motion Picture Fund (GMPF) im Haushalt 2026 und in der mittelfristigen Finanzplanung 2027–2029 auf 250 Millionen Euro beschlossen – fast eine Verdopplung gegenüber dem bisherigen Niveau. Zusammen mit der kulturellen Filmförderung und Mitteln der Filmförderungsanstalt stehen damit zukünftig rund 310 Millionen Euro Bundesmittel zur Verfügung. Dennoch hatte Weimers Begründung, dass es mehr Blockbuster und Serienhits »made in Germany« brauche, auch für Kritik gesorgt. Was ist mit dem künstlerischen, nicht »big« rein im Publikumsinne gedachten Film? Die AG Filmfestival, die die Erhöhung generell begrüßte, sieht zudem die reine Fokussierung auf die Produktionsseite kritisch. Zu neuen kreativen Freiräumen, Bürokratieabbau bei der Filmförderung und der Revitalisierung Deutschlands als Produktionsstandort gegen die Abwanderung von Produktionen ins Ausland werden hoffentlich die vollumfängliche Implementierung des neuen Filmfördergesetzes und die Umstrukturierung der Filmförderungsanstalt (FFA) beitragen. Und mehr Aufmerksamkeit braucht das deutsche Filmgeschehen ganz sicher, vor allem der Nachwuchs, der immer noch zu oft unter dem Radar läuft.

Über ein bisschen Aufmerksamkeit wird sich Deutschland auch in diesem Jahr beim Filmfest in Venedig freuen dürfen. Zwar ist kein deutscher Regisseur im Wettbewerb vertreten, aber Werner Herzog zeigt außer Konkurrenz seinen neuen Dokumentarfilm »Ghost Elephants« und wird, wie es in der Pressemitteilung heißt, als »einer der größten Erneuerer des Neuen Deutschen Films« mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt. Und Roderick Warich, unter anderem Co-Autor von Timm Krögers »Die Theorie von Allem« und »Zerrumpelt Herz« sowie von Sandra Wollners »The Trouble with Being Born«, wird mit seinem Langfilmregiedebüt »Funeral Casino Blues« in der Sektion »Orizzonti« laufen. 

Auch auf dem Festival von Toronto ist der deutsche Filmnachwuchs präsent: Joscha Bongard, der mit seinem Dokumentarfilm »Pornfluencer« für Aufsehen gesorgt hat, präsentiert dort sein Spielfilmdebüt »Babystar«, ebenfalls in der Sektion »Discovery«. Es wuselt und kreucht weiter!

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