Kritik zu Die Ruhelosen

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Die Heftigkeit ist eine latente Bedrohung in den Familien- und Beziehungsfilmen des Belgiers Joachim Lafosse (»Die Ökonomie der Liebe«). Sein neues Werk handelt von einem Vater, dessen bipolare Störung für alle Beteiligten zu einer Belastungsprobe wird

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Er solle sich nicht für ihn schämen, schärft Damien seinem Sohn Gabriel ein, überhaupt solle er sich niemals schämen. Das ist eine nützliche, vernünftige Lebenslektion, für einen Zehnjährigen aber auch eine Aufgabe, die schwer wiegt. Ohnehin fällt es nicht leicht, die Worte des Vaters für bare Münze zu nehmen, denn er ist nicht immer er selbst. Er hat plötzlich großspurige Ideen und Pläne, von denen er nicht abzubringen ist. Etwa jenen, mitten in Gabriels Unterricht zu platzen und die ganze Klasse mit an den See zu nehmen.

Der Maler (Damien Bonnard) leidet an einer bipolaren Störung. Er erlebt manische Schübe, die seine Frau Leïla (Leïla Bekhti) und seinen Sohn (Gabriel Merz Chammah) brüsk in nicht nur peinliche oder verstörende, sondern auch nachgerade gefährliche Situationen stürzt. In diesen Episoden ist er hyperaktiv, arbeitet Tag und Nacht ohne Unterlass. Sie fangen als kleine Verschiebungen im Alltag an, als Ausbrüche eines Elans, der anfangs noch ansteckend oder lustig sein kann. Aber Leïla und Gabriel haben gelernt, die Nuancen zu erkennen, in denen sich diese Zuspitzung der Normalität vollzieht. Die Kehrseite, die Lethargie und Depression, in die Damien dank des Lithiums verfällt, ist ebenso schwer erträglich.

Joachim Lafosse lehrt sein Publikum, aufmerksam zu sein für das Timbre der Momente. Es kann sofort kippen. Argwöhnisch sammelt sein Film Indizien, bewegt sich auf dem schmalen Grat zur klinischen Fallstudie, tritt aber dank seiner hervorragenden, leidenschaftlich für ihre Figuren einstehenden Darsteller robust in filmisches Leben ein. »Die Ruhelosen« ist ein Melodram des Aufruhrs, das verzweifelt der Heilung entgegenfiebert. Der Plural des Filmtitels ist hellsichtig. Damiens Hyperaktivität nimmt keine Rücksicht; die gesamte Familie ist von ihr betroffen.

Lafosse weiß dies aus eigener Erfahrung: Er wuchs mit einem Vater auf, der an einer bipolaren Störung litt. Es ist mithin wahrscheinlich, dass er dem zehnjährigen Gabriel Züge von sich selbst gibt. Er ist zuerst stiller Zeuge, später zerrissen zwischen den Gefühlen für seine Eltern und schließlich zu Fürsorge fähig. Die Eröffnungssequenz, in der Damien dem Sohn unbedacht das Steuer eines Motorbootes überlässt, wirkt, als beruhe sie auf eigenem Erleben. Der Vater des Regisseurs war ebenfalls Künstler, ein Fotograf, und die Frage, ob Damiens Manie die Grundbedingung seiner Kreativität ist, bedrängt ihn zutiefst. Das vielstimmig geschriebene Drehbuch unterhält indes komplexere Beziehungen zur Realität. Die Vornamen der Hauptfiguren sind identisch mit denen ihrer Darsteller; ein Teil der Gemälde Damiens stammt von Bonnards Hand. Er und Bekhti haben für ihre Rollen sichtlich zugenommen. Die allseitige Hingabe an einen bestimmten, wenngleich nicht maßlosen Begriff von Authentizität mutet an, als wolle Lafosse die Fiktion um jeden Preis einhegen. Er weiß, »Die Ruhelosen« funktioniert nur, so lange das Publikum seinen Figuren vertraut.

Natürlich bürgt das lebensgeschichtliche Schillern allein nicht für die Glaubwürdigkeit der Situationen und Dialoge. Sie ist eine Frage des richtigen Tonfalls und nicht zuletzt des Tempos. Auch hier muss man im Plural sprechen, denn die Lebensrhythmen kollidieren miteinander. Angefangen mit der ersten Einstellung, die Leïla geduldig im tiefen Schlaf am Ferienstrand betrachtet, ist die Ruhe ein kostbarer, stets bedrohter Zustand in diesem Film. Die Handkamera kann über lange Passagen nicht umhin, sich ins Schlepptau von Damiens Frenesie zu begeben. Ihr stellt Kameramann Jean-François Hensgens aber auch konzentrierte, in der Komposition ausgeglichene Tableaus gegenüber. Das Cinemascope beharrt darauf, dass die Charaktere erst einmal Abstand voneinander halten, bevor eine Annäherung möglich wäre. Lafosses Inszenierung setzt sie alle in ihr Recht: zugeneigt, voller Empathie und Wachsamkeit. Er schaut genau zu, wie sich ihre Beziehungen wandeln; auch dies ein kleines Wunder des Nuancenreichtums. Allmählich erwächst dem Film eine leise, belastbare Zuversicht in das Danach. Er kann versprechen, dass er aufpasst, sagt Damien, aber nicht, dass er gesund wird.

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