Kritik zu Amrum

© Warner Bros. Pictures

Ungewohnt leise verarbeitet Fatih Akin die Kindheits­erinnerungen seines Freundes Hark Bohm und erzählt vom Ende des 2. Weltkriegs auf der Nordseeinsel Amrum

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Dazugehören oder nicht beziehungsweise zu welchen Bedingungen, das ist ein stetiges Thema in den Filmen von Fatih Akin. Immer wieder hat der türkisch-deutsche Regisseur die Erfahrung von Immigranten erforscht, die er selbst in Hamburg als Sohn türkischer Einwanderer erlebt hat. Auch Nanning (Jasper Billerbeck), der kleine Held seines neuesten Films, wird kurz vor Kriegsende von den Amrumer Inselbewohnern als »Festländer« beschimpft, auf gleicher Ebene mit den Geflüchteten aus Schlesien und Ostpreußen, die gerade scharenweise vor den Russen fliehen. Dass seine Familie über neun Generationen in der Inselgeschichte und der Tradition der Walfänger verwurzelt ist, interessiert da keinen. 

Nannings hochschwangere Mutter (Laura Tonke) und seine zwei Geschwister sind vor dem Chaos des Krieges von Hamburg auf die Insel geflohen. Auf Amrum scheint der Krieg in weiter Ferne, die Idylle der Insel ist weitgehend unberührt davon, mal abgesehen von der Leiche eines Soldaten, die Nanning bei der Suche nach Treibholz am Strand findet. Und die Nahrung ist auch hier knapp, es gibt zwar die Kartoffeln, die die Bäuerin Tessa (Diane Kruger) auf ihrem Acker erntet. Aber die Hühner legen ihre letzten Eier, weil es keine Körner mehr gibt, um sie zu füttern, und die Bienen produzieren keinen Honig, weil Zuckerersatz Mangelware ist. 

»Amrum« ist eine Coming-of-Age-Story, wie sie Fatih Akin schon öfters erzählt hat, zuletzt in »Tschick«. Es ist eine zugleich einfache und tiefgründig vielschichtige Geschichte von einem Jungen, der seiner Mutter den Wunsch nach einem Weißbrot mit Butter und Honig erfüllen will, und dafür in den Tagen um die Kapitulation keine Mühen scheut. Hier kann er ein bisschen Weizenmehl ergattern, dort von den Gänsen die Eier klauen, um sich die Dienste des Bäckers zu sichern, hier Zucker erbeuten, als Ersatz für den Bienenhonig. Die Butter, die ihm eigentlich schon sicher war, rückt jedoch in weite Ferne, weil Tessa ihn zu Unrecht für einen Spitzel hält. 

Es ist schwer für einen zwölfjährigen Jungen, sich in diesen Tagen vor und nach der Kapitulation einen Weg durchs Dickicht von Nazi-Propaganda, Schweigen, Verschleierung und Lügen zu bahnen. Dieses Ringen um eine Wahrheit im Chaos der widersprüchlichen Eindrücke und Erzählungen spiegelt sich im wachsam prüfenden, immer ein bisschen vorsichtigen und misstrauischen Blick des jungen Darstellers Jasper Billerbeck, der hier sein Schauspieldebüt gibt, neben großen Stars wie Diane Kruger oder Matthias Schweighöfer mit kleinen Parts. 

Und neben Laura Tonke in einer undankbaren Rolle, die sie so bravourös meistert, wie gerade schon die Alkoholikerin in »22 Bahnen«. Sie sorgt dafür, dass diese Löwenmutter nie zum Klischee wird, obwohl sie eine verbissen uneinsichtige Nationalsozialistin ist, die ihren Ältesten inquisitorisch verhört, um herauszufinden, wer denn gesagt habe, dass der Krieg bald zu Ende sei: »Wer unseren Soldaten in den Rücken fällt, muss schwer bestraft werden, damit andere, die das auch tun wollen, sich das gut überlegen«, fordert sie. Noch nachts und kurz vor der Geburt läuft sie geschäftig los, um den Hochverrat zu melden. Die Nachricht von Hitlers Selbstmord stürzt sie in Depressionen; sie sorgt sich darum, in welcher Welt ihr Neugeborenes nun aufwachsen muss, als die meisten Inselbewohner schon tanzend das Kriegsende feiern.

All das erzählt Fatih Akin ungewohnt leise und behutsam, aber auch sehr präzise, ganz ohne den ungestümen Drive, der durch die meisten seiner Filme pulsiert. Das hat damit zu tun, dass er sich hier in die Kindheit seines Freundes und Mentors Hark Bohm einfühlt und zugleich die Gegenwart in Deutschland mit der erstarkenden AfD mitschwingen lässt. Die langen Einstellungen lassen dabei viel Luft für die Naturschönheit Amrums, aber auch für die Dunkelheit, die in den Häusern herrscht. »Ein Hark-Bohm-Film von Fatih Akin«, so wird »Amrum« im Vorspann betitelt. Denn Akin hat den Freund, Mentor und Co-Autor von »Aus dem Nichts« und »Tschick« dazu angestiftet, etwas Ähnliches mit seiner Kindheit zu versuchen, wie unter anderen Steven Spielberg in »The Fabelmans« und Alfonso Cuarón in »Roma«: ein Fenster aufzustoßen zur Familiengeschichte. Als der 86-jährige Hark Bohm zu schwach wurde, um selbst Regie zu führen, hat Akin freundschaftlich übernommen, und letztlich wohl selbst einiges erfahren, über das Land, das Teil seiner doppelten Heimat ist.

Meinung zum Thema

Kommentare

Wir, mein Mann und ich, haben uns heute den Film "AMRUM" im Kino angeschaut.
Es ist einfach ein Meisterwerk, wie Fathi Akin diese Thematik filmisch umgesetzt hat. Da stimmt eben alles. Ich habe mich so mitgenommen gefühlt, dass ich in einer anderen Welt war, aber irgendwie doch in der Realität.
Der Film ist sehr berührend und man versteht in jeder Situation,
was in den Protagonisten vor sich geht.
Sehr emotional auch die letzte Einstellung des Filmes mit
Hark Bohm.
Danke, danke für dieses außergewöhnliche Kinoerlebnis.
Monika und Axel Hilker

Anstrengend, langweilig, schon mal da gewesen
Kino nach 3/4 des Films verlassen

Eine persönliche Geschichte von Hark Bohm wird maßlos überhöht filmisch betrachtet. Eine Prise von allem und schon ist ein storytelling fertig? Den Trip hätte sich Akim bestens sparen können.

Eher eine Inhaltsangabe. Ich habe die Rezension aufgerufen um mehr über den Film zu erfahren. Zum Inhalt wusste ich schon genug.

Und der Bezug zur AfD ist eine Verharmlosung des historischen NS.

Ein trostloser Film. Was gibt es schlimmeres, als als Kind einer depressiven Nazi-Mutter aufzuwachsen? Das bringt der Film präzise rüber. Als Hark-Bohm-Fan reizt mich besonders der autobiographische Hintergrund des Films, den die letzte Sequenz andeutet. Die eindrucksvollen Tieraufnahmen bleiben aber genauso ein Fremdkörper wie die Schlussszene. Mit den Tieraufnahmen sollte wohl der Schönheit der Insel gehuldigt werden - ein Versprechen, mit dem man die Besucher ins Kino gelockt hat. Mit der Handlung haben sie aber rein gar nichts zu tun. Und bei der Schlussszene kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Filmemacher festgestellt haben, wie trostlos der Film ist und erkannten: So kann man die Kinobesucher nicht nach Hause gehen lassen. Also hängen wir noch den Hauch einer Romanze dran.

Der Film ist gelungen. Das Buch die Lebenserinnerungen eines Insulaners wurden gut ins Bild gesetzt. Durch Kreuzungen der Handlung, wurde der Film politisch entschärft. Der SS-Vater in Handschellen wäre ein starkes Bild gewesen. Es ist spürbar der Herr Filmemacher wollte nicht anecken.

Die Geschichte des Jungen Nanning, seine Verzweifelung und sein Reifen war sehr gut dargestellt. Die Härte und Herzlosigkeit wird ihn sein Leben begleiten - wie schön gezeigt, hat er die Mitmenschlichkeit nicht verloren, indem er den Aussiedler vor dem Ertrinken rettet.
Die bemühte Amrumidylle soll wohl die touristisch interessierten Inselfans in die Kinos locken .. wirkt eher wie ein Musumsdorf mit teils falschen Details: auf diese Weise kann man keine Wildkaninchen fangen und auch nicht töten.
Immerhin ist es sinnvoll, ein gutes Messer dabei zu haben, was ja heute allgemein nicht gern gesehen wird.
Danke Hark Bohm für deine Geschichte

Ein sehr intensiver und einfühlsamer Film.
Während der Vorstellung im Kino spürte man wie gefangen und mitgenommen die Gäste im Kino waren. Für mich , einer der besten Filme seit langem. Danke an Fatih Akin

Ein toller und einfühlsamer Film. Klasse Darsteller.

Ein sehr trostloser Film!
Der Junge hat sehr gut gespielt, Hut ab! Aber diese kargen Dialoge, die ich oft gar nicht verstanden habe, dazu die düsteren Zimmer und mürrischen Leute haben mich sehr runtergezogen. Nannings Mutter hat sich nie bedankt und hat ihren Sohn, der sogar sein Leben riskiert hat, um ihr eine Freude zu machen, nie gelobt. Weinen durfte er auch nicht, er sollte „ein Mann“ sein!
Der Film hat mich sehr aufgewühlt und enttäuscht.

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