Kritik zu Martin Eden

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Der erste Spielfilm des Dokumentaristen Pietro Marcello ist eine sehr freie Adaption von Jack Londons gleichnamigem Bildungsroman. Sie ist so fulminant, dass sie beide auf ihrer Seite hat: die Vorlage und die Freiheit

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Der angehende Schriftsteller ist von einem schweren Fieber ergriffen, als ihn endlich die gute Nachricht erreicht, auf die er so lange vergeblich gewartet hat. Nach den unzähligen Ablehnungen, die er bisher erhielt, schreibt ihm nun ein Verleger, dass er seine Kurzgeschichte in einer Zeitschrift veröffentlichen will. Schlagartig kehrt das Leben wieder in ihn zurück, elektrisiert richtet er sich vom Krankenbett auf: »Mein Weg ist frei!«

Nichts in seiner Herkunft hat Martin (Luca Marinelli) für den Erfolg vorherbestimmt. Er ist ein Seemann und Gelegenheitsarbeiter, ungeschlacht und ohne Bildung. Sein einziger Ansporn ist die eigene Fantasie, die stets unter Hochdruck arbeitet. Als er Elena Orsini (Jessica Cressy), eine Tochter aus gutem, bürgerlichem Hause kennenlernt, ist sein Ehrgeiz geweckt. Martin hat Schlag bei den Frauen, aber sie scheint unerreichbar für ihn. Um jeden Preis will er Ruhm erringen, um diese anmutige, kostbare Trophäe zu erobern! Also erfindet er sich neu, ringt mit dem »Mörtel der Sprache« und schreibt fiebrig über das Leben, das er kennt.

Jack London hat diesen glühenden Autodidakten, der sich gegen alle Widerstände selbst reformiert, 1909 in San Francisco erfunden. Pietro Marcello verwandelt ihn in einen Süditaliener, der eine andere Küstenstadt (Neapel) und eine andere Zeit (das gesamte 20. Jahrhundert) unterwerfen will. 

Martin Eden wird reich als Schriftsteller, der über die Armut schreibt: ein Sozialist, der von der Fahne geht. Der Titel seiner ersten Geschichte, die veröffentlicht wird, ist gleichsam ein Menetekel: »L'apostato« (»Der Abtrünnige«). Ist es unausweichlich, dass er seinem Glauben abschwört und vom bürgerlichen Erfolg korrumpiert wird? »Das Feuer, das aus ihm loderte«, schreibt London, »wärmte nicht.« Pietro Marcello versteht ihn genau. Er rechnet seinen Titelhelden scharf aus und entdeckt doch lauter berückende Feinheiten an ihm, zeichnet ihn als romantischen Individualisten, der auf die eigene Lebendigkeit zählt und spät entdeckt, dass die frenetischen Zeitläufe stärker sind als seine verblichenen Ideale. 

Es trifft sich gut, dass »Martin Eden« nach mehreren Startverschiebungen nun im selben Monat anläuft wie Dominik Grafs Literatur­verfilmung »Fabian oder Der Gang vor die Hunde«. Beide Filme erfinden ihre ­eigene Zeitrechnung, in der sich die Epochen überblenden. »Historie« und »Gegenwart« widersprechen sich nicht in ihrer filmischen Präsenz. Damit ist ein Stück weit das alte Legitimations­problem des Kostümfilms gelöst: Grafs Film besitzt insofern aktuelle Relevanz, als er die Weimarer Republik als eine Zeit begreift, in der sich die Gesellschaft polarisiert. Marcello erzählt ebenfalls vom Aufkommen des Faschismus. Er zeigt eine Bücherverbrennung und in seiner Schlussszene einen rassistischen Übergriff von Schwarzhemden, während sich die Nachricht vom Ausbruch des Krieges verbreitet.

Dass es sich um den Zweiten Weltkrieg handelt, steht nicht zweifelsfrei fest. Denn bis dahin spielte der Film auch in der »Zukunft«. Er durchquert gleichsam das 20. Jahrhundert bis etwa in die 1980er Jahre. Während Graf bei der der Auswahl von Requisiten und Kostümen mit dem Ana­chronismus liebäugelt, bestimmt dieser fortdauernd das Antlitz von Marcellos Film. Seine Problematik bleibt unaufhörlich relevant in der Moderne. Gleichwohl sind beide Filme auch stilistisch miteinander verwandt, da die Regisseure auf jede filmische Technik zurückgreifen, die ihnen naheliegend erscheint; inklusive der Verwendung von Archivbildern. Marcello zieht also zugleich auch eine Summe des Kinojahrhunderts. Er kombiniert Stummfilmszenen (die er meist nachkoloriert, wie man es von historischen Postkarten kennt), mit farbigem Filmmaterial in den Formaten Super-Acht und 16 mm. Sein Werdegang weist ihn als einen Collage-Künstler aus, der rasch entdeckt hat, dass sich auf diese Weise nicht nur Porträts entwerfen, sondern auch Geschichten erzählen lassen.

Marcellos Stilprinzip ist die Assoziation: Auf den Selbstmord eines Freundes folgen Wochenschaubilder eines Schiffsuntergangs; später taucht das Wrack erneut als mahnender Erinnerungsfetzen auf. Seine visuelle und akustische Vorstellungskraft greift in alle möglichen Richtungen aus. Wahllos verfährt sie dabei nicht. Vielmehr will sie eine Pluralität der Erfahrungen in einer stilistischen erfassen. Die Popsongs aus den 70er und 80ern etwa, mit denen Marcello seine Tonspur drapiert, legen Spuren aus, die den Film stets zu sich selbst zurückführen: Joe Dassins »Salut« erzählt von Martins Entfremdung in eigener Manier. 

Es lohnt sich mithin, dem Film bis zum Abspann die Treue zu halten. Darin ist beispielsweise zu erfahren, dass es sich bei dem charismatischen Redner auf der Maidemonstration des Anfangs um den Anarchisten Errico Malatesta handelt, der aus der Geburtsstadt des Regisseurs stammt und einen Weg verkörpert, den Martin hätte einschlagen können.

»Martin Eden« ist Marcellos erster waschechter Spielfilm, was auch bedeutet, dass er sich verstärkt als Schauspielerregisseur bewähren muss. Er führt sie achtsam. Luca Marinelli hat 2019 verdient in Venedig die »Coppa Volpi« gewonnen. Carlo Cecchi ist eindrücklich als Martins Mentor Russ ­Brissenden. Und je häufiger man den Film sieht, desto stärker regt sich die Ahnung, dass die alleinerziehende Mutter (­Autilia ­Ranieri), bei der der Schriftsteller eine Heimstatt findet, womöglich die interessanteste der Frauenfiguren ist, zwischen denen er steht. 

Marcello, der selbst die Kamera führt, umfängt seine Figuren mit einem Blick, der in ungekannter Agilität zwischen Nähe und Distanz, Schärfe und Unschärfe schillert. Diese emphatische Begleitung hält er über die beiden Teile aufrecht, in die der Film gegliedert ist, aber nicht zerfällt. Der zweite ist mulmiger: Er schildert Martins spirituellen Niedergang. Der Elan des Regisseurs erlischt nicht. Aber die Euphorie, mit der er inszeniert, wird wachsamer.

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Kommentare

Es ist schade, daß ich auf dieser Seite keine Druckversion der überaus lesenswerten Rezension zu "Martin Eden" anklicken kann!
Zumindest sehe ich keine. So müßte ich 11 Seiten ausdrucken!

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