Joachim Trier: Der sanfte Surfer

Leise erzählt, mit explosiver Wirkung
Joachim Trier im Nationaltheatret, Oslo (2024). © Christian Belgaux

Joachim Trier im Nationaltheatret, Oslo (2024). © Christian Belgaux

Seit »Der schlimmste Mensch der Welt« gehört Joachim Trier zu den führenden europäischen Auteurs. Sein neuer Film »Sentimental Value« erzählt von einer Künstlerfamilie in der Krise. Ein Werkporträt

Jonah Hill kann es, ebenso Sean Wang, Ana Lily Amirpour, Harmony Korine, Larry Clark. Und sie alle haben es, manche mehr, manche weniger, in ihre Filme einfließen lassen: das Skateboarden und die Kultur dahinter. Einer der dollsten Skater in der Reihe allerdings ist – und man darf auch dahingehend den Hut vor ihm ziehen – Joachim Trier. Der entfernt mit dem dänischen Enfant terrible Lars von Trier verwandte und aktuell international gefragteste dänisch-norwegische Regisseur und Drehbuchautor war in Norwegen ein Star der Szene und sogar Skateboard-Nationalmeister.

Wer die Suchmaschine anwirft, wird noch typische 1990er-Jahre-Skatevideos im Fisheye-Look finden, in denen der junge Joachim Trier auf seinem Deck durch Miniramps und Halfpipes und durch den urbanen Raum springt, kickflipt und grindet. Bis 1989 rollten Trier und seine Crew auf illegalem Terrain, denn – what the …? – als einziges Land der Welt hatte Norwegen das Skateboarden für 11 Jahre verboten, weil es von der Regierung als zu gefährlich eingestuft wurde. Ein bisschen Punk war Trier schon immer.

Zu sagen, dass das Skateboardfahren und das Filmemachen fließend ineinander übergehen, wäre zu viel des Guten. Aber ganz losgelassen hat es ihn offenbar nicht. Zur Premiere seiner in diesem Jahr beim Filmfestival in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Tragikomödie »Sentimental Value«, die als norwegischer Beitrag ins Oscarrennen geht, betonte der Regisseur gegenüber dem Branchendienst »Deadline«, dass sein elektrisierender, spontaner Stil des Filmemachens aus seiner wilden Skateboard-Zeit in der Jugend stamme.

Erneut nach einem gemeinsam mit seinem langjährigen Kreativpartner Eskil Vogt verfassten Drehbuch, erzählt Trier mit einem fantastischen Ensemble um Renate Reinsve, Inga Ibsdotter Lilleaas, Stellan Skarsgård und Elle Fanning von einer entfremdeten Familie. Nach dem Tod der Mutter müssen sich zwei Schwestern, die eine Schauspielerin, die andere Historikerin, mit dem Vater auseinandersetzen, einem einst gefeierten Regisseur (Skarsgård), dessen letzter Film Jahre zurückliegt. Jetzt hat er etwas Neues geschrieben, und zwar für die am Theater arbeitende Tochter (Reinsve), und will mit ihr im alten Familienhaus drehen. Als die psychisch vulnerable, mit dem Vater gesprächsunfähige junge Frau ausschlägt, holt er einen Star (Fanning) ins Boot.

»Sentimental Value« erzählt unaufdringlich, aber außerordentlich fesselnd von einer Familie im leise brodelnden Ausnahmezustand. Wie gerne bei Trier, wenn auch ruhiger, weniger expressiv, durchdringen sich Kunst und Realität, hier Filmhandlung und Film-im-Film-Entstehung zu einer fein beobachteten, so schönen wie schmerzhaften zwischenmenschlichen Choreographie.

Auch »Sentimental Value« spielt in Triers Heimatstadt Oslo, durchmisst allerdings nicht, wie so gerne bei ihm, Häuserblöcke und Straßen, sondern ist kammerspielartiger angelegt. Die Liebe zu der Metropole, in der der 1974 im dänischen Kopenhagen geborene Regisseur aufwuchs, hat er in Filme gegossen, buchstäblich. Mit seiner aus drei eigenständigen Arbeiten bestehenden Oslo-Trilogie ist er weltbekannt geworden, und man kann sich gut vorstellen, dass das Skateboarden als performative Aneignung des urbanen Raums seinen Blick auf die Stadt und das Leben dort geprägt hat.

Den Auftakt machte 2006 sein Nouvelle-Vague-atmendes, experimentelles, flirrendes Debüt »Auf Anfang«. Trier erzählt darin von zwei 23-Jährigen mit Schriftsteller-Ambitionen, von denen einer zunächst erfolglos bleibt, der andere quasi über Nacht bekannt wird, allerdings in der psychiatrischen Klinik landet. Der Film beginnt mit jenem Moment, in dem die beiden Freunde nervös mit den Manuskripten vor einem Briefkasten stehen: der Anfang für eine fast schon essayistische Reflexion über die Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe. Wie hätte alles anders sein können?

»Oslo, 31. August« von 2011 nahm den Faden auf. Inspiriert von Pierre Drieu la Rochelles Roman »Das Irrlicht« (1931), bereits 1963 von Louis Malle adaptiert, folgt der Film über einen Tag lang einem frisch aus der Klinik ausgewiesenen Ex-Junkie Mitte 30 mit Suizidwunsch. Er wird zum Spiegel seiner Kohorte, wenn er alte Freunde besucht, die mittlerweile in familiären Konstellationen und Abhängigkeiten leben, und ihren Freuden und Sorgen lauscht.

Die Konstante dieser Filme ist der Schauspieler Anders Danielsen Lie, der im dritten Teil der Reihe, »Der schlimmste Mensch der Welt«, eine Nebenrolle spielte. Eine eindrückliche, sicher, aber im Kern ist es der Film der damaligen Newcomerin Renate Reinsve, die in »Oslo, 31. August« nur eine Zeile Text hatte. Trier bot ihr die Bühne und er sollte recht behalten. Für die norwegische Schauspielerin war ihre erste Hauptrolle der Durchbruch auf dem internationalen Filmparkett. In Cannes wurde sie 2021 als beste Darstellerin ausgezeichnet, und der Film wurde als norwegischer Oscarbeitrag eingereicht. Neben der Nominierung als bester internationaler Film waren Trier und Vogt für das beste Originaldrehbuch nominiert.

Es sind denkwürdige Momente, wenn Reinsves Figur durch Oslo läuft und rennt, wenn sie sich auf eine Hochzeit von Unbekannten einschleust und beim Flirten auf dem Klo pupst. Sie spielt eine Frau an der Schallmauer zu ihrem 30. Geburtstag, die nicht stillstehen kann und will. Sie beginnt vieles – ein Medizin-, ein Psychologie- und ein Fotografiestudium – und bringt nichts zu Ende; sie will keine Kinder und ist bereit, sicher geglaubte Partnerschaften zu beenden. Trotz oder gerade wegen all ihrer Macken ist man voll bei ihr, bei dieser Frau im Selbstfindungshamsterrad. Es fühlt sich jede Sekunde so an, als habe Trier selbst Erlebtes in seinen Film einfließen lassen und die Rolle für Reinsve maßgeschneidert.

In seiner Oslo-Trilogie fängt der Regisseur das Lebensgefühl, die Ängste und Befindlichkeiten einer Generation ein und entwirft ein Panoptikum des (späten) Erwachsenwerdens. Und das mit einem Hang zu Verspieltheit und Anarchie, die die Filme in Bewegung halten und für Überraschungen sorgen. Das Unstete ist bei ihm immer auch ein ästhetischer Motor.

Was seine Filme darüber hinaus bis heute verbindet, sind die ausgeprägten literarischen Bezüge, sowohl inhaltlich als auch formal. Immer wieder erzählt er von Schriftstellern und Autoren. Die Protagonistin in »Der schlimmste Mensch der Welt« macht mit einem feministischen Artikel über Oralsex auf sich aufmerksam; der Film selbst ist in zwölf unterschiedlich lange Kapitel plus Prolog und Epilog eingeteilt. Auch allwissende Erzähler tauchen gern als narratives Element oder zumindest punktuell auf. Zu Beginn von »Sentimental Value« stellt eine fast schon märchenhafte Off-Erzählerin das wunderschöne Familienhaus im Zentrum der Handlung als eigenen Protagonisten vor, indem sie dessen Geschichte über Jahre mit den Freuden und Krisen, mit Leben und Tod in der Familie verbindet.

Dass es in seinen Filmen immer auch um die Kunst selbst geht, wurde Trier, wie man so schön sagt, in die Wiege gelegt. Sein Vater ist der Jazzmusiker Jacob Trier, der als Tontechniker an verschiedenen Filmen beteiligt war, darunter »Hintertupfinger Grand Prix« aus dem Jahr 1975. Der Stop-Motion-Puppentrickfilm von Ivo Caprino gilt als einer der erfolgreichsten norwegischen Filme überhaupt. Seine Mutter Hilde Løchen Trier machte Kurzfilme und sein Großvater Erik Løchen war ebenfalls Jazzmusiker, Drehbuchautor und Filmemacher, bekannt für seinen experimentellen und modernen Stil.

Trier, so liest man in Interviews, habe schon als Kind Trickfilme auf Super-8 mit seinem Vater gedreht. In seiner Jugend raste und sprang er nicht nur vor der Kamera mit dem Skateboard vorbei, sondern produzierte daneben selbst Skatevideos. Professionalisiert hat Trier sein Handwerk später während seines Studiums am European Film College im dänischen Ebeltoft und an der britischen National Film and Television School, wo er unter anderen von Stephen Frears, Mike Leigh und Robert Altman lernte.

Ebendort, an der im englischen Beaconsfield gelegenen renommierten Hochschule für Film, Fernsehen und Spiele, entstand nach Triers Abschluss sein Kurzfilm »Procter«, für den er bereits mit Vogt zusammenarbeitete. Unglaublich dicht erzählt der 18-Minüter von einem Mann, der eine Kamera samt Videoband findet. Darauf: ein Fremder, der sich bei seiner Morgenroutine, beim Zähneputzen und Rasieren, filmt, der ein Mädchen mit Hund trifft und sich am Ende mit Benzin übergießt und in seinem Auto in der Tiefgarage anzündet. Es ist ein verstörender und zugleich zutiefst menschlicher Film über die intermediale Begegnung mit einem Fremden, in der sich Gefilmtes und Wirklichkeit immer stärker durchdringen. Trier erklärte, dass er mit dem Film seinen persönlichen Stil gefunden habe.

Zu diesem Stil gehört auch ein Hang zu seiner, wie Trier es in Interviews nennt, »Patchwork-Ästhetik«. Mit großer Sensibilität für seine Figuren, die manchmal auf dem Papier wie ein Klischee klingen mögen, aber dann doch so voller Leben stecken, erzählt der Norweger in spielerischen Erzählstrukturen von existenziellen Eruptionen. Das gilt ohne Frage auch für seine beiden noch vor Abschluss der Oslo-Trilogie eingeschobenen, auf ihre je eigene Art intensiven Filme »Louder Than Bombs« (2015) und »Thelma« (2017).

Sein mit Isabelle Huppert, Jesse Eisenberg und Gabriel Byrne prominent besetztes US-Debüt »Louder Than Bombs« porträtiert eine Familie vor der Zerreißprobe. Der Film setzt drei Jahre nach dem tödlichen Unfall einer berühmten Kriegsfotografin ein und zeigt ihren verwitterten Mann, der eine Retrospektive mit ihrer Arbeit vorbereitet, und die beiden Söhne als von Traumata versehrte Entfremdete. In Rückblenden und Zeitsprüngen, gefiltert durch die subjektiven Perspektiven der Protagonisten, handelt das komplexe, mosaikartige Drama von Erinnerungen und Unausgesprochenem, dem individuellen Umgang mit Trauer und stellt auch die Frage nach der (moralischen) Verantwortung von Kriegsfotografen.

In »Thelma« wiederum geht Trier mit dem Genrekino schwanger und erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte als übernatürlichen Thriller mit Elementen des Horror- und Mysteryfilms. Die introvertierte Titelheldin (Eili Harboe) zieht zum Biologiestudium nach Oslo: im Nacken die streng religiösen, überfürsorglichen Eltern, vor sich ein neues Leben mit neuen Freiheiten, von denen Thelma nach einigem Zögern auch kostet. Die erste Zigarette, der erste Alkoholrausch, erste Partyerlebnisse, der normale junge Wahnsinn.

»Thelma« (2017). © Koch Films

Aber mit Thelma stimmt etwas nicht: Nach einem an Epilepsie erinnernden Zusammenbruch, der mit fast schon biblischer Wucht von verrücktspielenden schwarzen Vögeln begleitet wird, häufen sich ihre Anfälle. Besonders als Thelma ihr Interesse an einer Freundin entdeckt und die beiden sich näherkommen. Mit Bildern von verstörender Schönheit und einem dichten, stimmungsvollen Score des Komponisten Ola Fløttum kehrt Trier das Seelenleben seiner paranormalen Protagonistin nach außen in diesem Film, der wieder ganz anders und doch typisch ist.

Bewundernswert ist, dass sich bei Trier Traurigkeit, Melancholie und Leichtigkeit die Waage halten. Seine Filme sind bevölkert von süchtigen und depressiven, wenn nicht suizidalen Personen; im Kurzfilm »Procter« zündet sich jemand an, in »Oslo, 31. August« erfährt das Publikum gleich in der ersten Szene vom Selbstmordversuch des Protagonisten, in »Louder Than Bombs« lenkt die Fotografin ihr Auto auf die Gegenfahrbahn; in »Sentimental Value« schließlich werden Selbstmordgedanken einer Figur in einer kurzen Szene angedeutet und der von Skarsgård gespielte Regisseur greift in seinem neuen Film den Suizid der eigenen Mutter auf. Das Erinnern und die Spuren der Vergangenheit stehen bei Trier oft an zentraler Stelle, in einem Interview mit Criterion sagte er, dass er sich deshalb fürs Kino interessiere: »Es ist die Kunstform der Erinnerung«.

Er zeigt in all seinen Filmen Menschen, die mit großen (innerfamiliären) Herausforderungen konfrontiert sind, die von Tod umgeben sind oder selbst mit ihm tänzeln, die sich auf der Suche nach sich selbst beinahe verlieren, um dann doch etwas zu finden. Sein Filter dafür ist die Filmkunst, sein trotz aller ästhetischer Elaboriertheit immer wieder auch konzentriertes, leises Erzählen mit explosiver (Nach-)Wirkung. Kunst kann selbsterfüllend oder selbstzerstörerisch sein, exzessiv und introvertiert, depressiv und heiter, Grunge, Punk, Ballade oder Schmonzette. Und sie kann, das deutet das Ende von »Sentimental Value« an, Heilung bringen.

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