Kritik zu Hysteria
Ein verbrannter Koran, ein verlorener Schlüssel und entwendetes Filmmaterial führen in Mehmet Akif Büyükatalays Thriller immer tiefer ins Dickicht aus Projektionen und Paranoia. Mittendrin als überforderte Set-Praktikantin: »Shooting Star« Devrim Lingnau
Schon die ersten Einstellungen sind nicht das, was sie scheinen: Schwarz-Weiß-Bilder von Überwachungskameras zeigen verschiedene Räume einer Wohnung. Eine Gestalt mit Kapuze betritt sie. Wenig später beginnen in einer Zimmerecke Flammen zu züngeln, greifen um sich … und die Bilder stellen sich als Aufnahmen für einen Film im Film heraus. Der rassistische Anschlag in Solingen 1993 mit fünf Todesopfern ist das Thema. Gebrannt hat heute nur eine Kulisse in einer Fabrikhalle, und die Aufnahmen sind zu aller Zufriedenheit verlaufen.
Nun soll Praktikantin Elif (Devrim Lingnau) nur noch die Komparsen ins Heim für Geflüchtete zurückfahren und das gedrehte Material in die Wohnung von Produzentin Lilith (Nicolette Krebitz) und Regisseur Yigit (Serkan Kaya) bringen. Doch schon zuvor haben sich die ersten Störungen im scheinbar so geschmeidigen Betriebsablauf angedeutet: In der Kulisse wurde wohl ein echter Koran mitverbrannt, aus Versehen, versteht sich – und doch zur Verstimmung des einen oder anderen muslimischen Mitwirkenden. Und dann stellt Elif an der Wohnungstür ihrer Chefs fest, dass sie deren Schlüssel verloren hat. Von da an nehmen die Dinge eine fatale Wendung nach der anderen, und Mehmet Akif Büyükatalays »Hysteria«, sein zweiter langer Film nach dem bereits vielgelobten »Oray«, wird zum veritablen Thriller.
Ironischerweise sind es vor allem Elifs Versuche, ihren Fehler zu verschleiern, die die Lage immer weiter verkomplizieren und sie zu immer neuen Lügen zwingen. Spontan hängt sie Zettel mit »Schlüssel verloren« aus, und als sich jemand meldet, verrät sie allzu schnell die Adresse der Wohnung. Niemand erscheint und Elif hat nun Panik, der anonyme Schreiber könnte sie dort überfallen. Noch beunruhigender sind eine anonyme Beschwerdemail bei der Filmförderung wegen des Korans und das spurlose Verschwinden des Filmmaterials. Steht beides im Zusammenhang? Könnte das Material in falsche Hände geraten? YouTube-Bilder von weltweiten Protesten und Todesdrohungen infolge einer früheren Koranverbrennung geistern in den Film hinein …
Äußerst dicht und kunstvoll, mit sarkastischer Konsequenz, verflechtet das Drehbuch zwei Ebenen der Spannung immer undurchdringlicher miteinander: auf der einen Seite Elifs persönliche Not – stets unter Druck, sich als strebsame Praktikantin keine Blöße zu geben –, auf der anderen die fahrlässige Koranverbrennung und ihre konkreten sowie ihre hypothetischen Folgen. In beiden Strängen sind die Menschen Getriebene, und was sie antreibt, sind Projektionen und Paranoia, teils unterfüttert von Vorurteilen, die sie sich selbst nicht eingestehen. Am Ende sieht jeder in jedem einen potenziellen Feind. Die Dringlichkeit, die diese künstlerische Vision ausstrahlt, hat natürlich mit unserer aktuellen Wahrnehmung einer gespaltenen und zunehmend hysterischen Gesellschaft zu tun. Ebenso präzise wie das Drehbuch, ganz auf das Wesentliche fokussiert und damit eine ungewöhnliche Dynamik erzeugend, ist Büyükatalays Regie, die auf ein grandioses Ensemble bauen kann. Besonders beeindruckt Devrim Lingnau, spätestens seit der Netflix-Serie »Die Kaiserin« bekannt und Anfang des Jahres als deutscher »Shooting Star« geehrt: Die wachsende Verzweiflung Elifs macht sie fast körperlich spürbar, und wenn sie von ihrem türkischen Vater mit dem Dönerladen erzählt, dessen Gutmütigkeit von den Deutschen nach Strich und Faden ausgenutzt wurde, schwingen in ihren Worten sowohl Mitleid als auch Verachtung mit – und die Zerrissenheit einer jungen Frau, die weiß, dass ihr in dieser Gesellschaft nichts geschenkt wird.
Keine der Figuren von »Hysteria« ist bloß Träger einer These oder eindeutig positiv oder negativ. So vielschichtig wie der Film sind die Menschen, von denen er erzählt. So trägt der Film auch keine Moral vor sich her und verurteilt nicht, vielmehr beleuchtet er illusionslos die Dynamik des Misstrauens und der Unterstellungen bis in sein genüsslich überzeichnetes, furioses Finale. Was er dabei ohne erhobenen Zeigefinger zeigt: Es ist alles eine Frage der Bewertung. So doziert ein muslimischer Gelehrter in einem anderen YouTube-Video, das Verbrennen eines Korans sei gar nicht unbedingt verboten – es komme auf die Intention und die Interpretation des Akts an.








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