Venedig: Die Jury hat ein Problem

»The Testament of Ann Lee« (2025). © Venice International Film Festival

»The Testament of Ann Lee« (2025). © Venice International Film Festival

Kathryn Bigelow hat einen ebenso krachenden wie klugen Atomthriller geliefert, Mona Fastvold verblüffte mit einem Protestanten-Musical. Aber ein klarer Favorit zeichnete sich im Wettbewerb von Venedig bis zur Wochenmitte nicht ab. Dann rollte ein tunesisch-französischer Film über den Gaza-Krieg das Feld auf

Die Karten liegen auf dem Tisch; die letzten Wettbewerbsfilme haben am Lido Premiere gefeiert. Am Wochenanfang war mit »Geräusch« ein Knoten geplatzt. Amanda Seyfried führte als heroisch-beseligte Mutter einer protestantischen Freikirche den Wettbewerb aus einem Verhau von Männerporträts, Literaturadaptionen und Genrevariationen heraus. Mona Fastvolds »The Testament of Ann Lee« erzählt eine Geschichte voller Gewalt und Misogynie – es geht um die Auswanderung und Neugründung der pazifistischen, zölibatären Shaker-Community im Amerika des 18. Jahrhunderts. Aber ekstatische Tanzszenen – diese Leute werden nicht umsonst als »Shaker«, Schüttler bezeichnet – und Seyfrieds Sirenengesang sorgten für produktive Verblüffung. Man kann im Kino immer noch mal was ganz anders machen. No risk, no fun.

Das gilt auch für Kathryn Bigelow. Während der französische Auteur François Ozon mit einer nobel schwarz-weißen, filigranen Neuverfilmung des »Fremden« von Albert Camus in eine Zone existentialistischer Unbestimmtheit driftete und der Italiener Pietro Marcello seine »Duse« schwer mit dem Problem der Relevanz von Kunst ringen ließ, aktualisierte die amerikanische Oscar-Preisträgerin rasant das alte Subgenre Atom-Thriller. »A House of Dynamite« ist das klug montierte, fiktive Protokoll eines nuklearen Angriffs auf die USA. Man sieht vom ersten Bleep auf den Bildschirmen einer arktischen Militärstation bis zur Öffnung des präsidialen Koffers, der gestaffelte Counterstrike-Optionen enthält, eine gigantische, in ihrer Komplexität jedoch maximal störanfällige geopolitische Machtmaschine am Werk – ein System, das heute noch viel irrer ist als in den Fünfzigern und Sechzigern, weil das menschliche Gehirn der Dynamik der Maschinenprozesse nicht mehr gewachsen ist.

Mona Fastvold und Kathryn Bigelow könnten in die Nähe der Preise kommen, ebenso »No Other Choice«, Park Chan-wooks Groteske über die prekäre Situation der koreanischen Mittelklasse, oder »Below the Clouds«, ein bildungsschweres Porträt der neapolitanischen Küstenregion von Gianfranco Rosi, die den Kritikern gefielen. Eine Steilvorlage für die mehrheitlich mit Arthouse-Regisseur*innen besetzte Jury lieferte am letzten Tag die Ungarin Ildikó Enyedi mit »Silent Friend«, einer hinreißenden Reflexion über unsere Beziehung zu den Pflanzen, die das Leben auf diesem Planeten tragen.

Alle Spekulationen könnten allerdings über den Haufen geworfen werden von der tunesisch-französischen Produktion »The Voice of Hind Rajab«, die mehr als 20 Minuten Standing Ovations bekam und als politische Intervention zu verstehen ist. Kaouther Ben Hania (»Olfas Töchter«) rekonstruiert hier, mit Unterstützung von Filmgrößen wie Brad Pitt, Joaquin Phoenix und Jonathan Glazer, den Tod einer Sechsjährigen, die im Januar 2024 im nördlichen Gaza in einem Fluchtauto eingeschlossen wurde – zwischen den Leichen der Familie ihres Onkels, in ständiger Angst: vor einem anrückenden Panzer, vor Schüssen, der Dunkelheit.

Die Aufnahmen von Rajabs mehrstündigen verzweifelten Handy-Telefonaten mit einer Zentrale des palästinensischen Roten Halbmonds in Ramallah, die damals per Social Media um die Welt gegangen waren und von der Regisseurin beglaubigt sind, bilden den dokumentarischen Teil des Films. Eingebettet sind sie in ein Re-Enactment mit Schauspieler*innen, eine Nachinszenierung der Arbeit in der Rotkreuz-Station, wo die Retter*innen versuchen, das Mädchen zu beruhigen und über offizielle Kanäle eine Ambulanz zu organisieren. Von den Recherchen zu diesem Kriegsverbrechen – das verschiedene internationale Organisationen als weitgehend gesichert betrachten, während Israel dementiert – erfährt man fast nichts; der Zuschauer wird in eine hektische Szenenfolge geworfen, die als »so passiert« zu akzeptieren ist. Man muss sich fragen, ob es ethisch vertretbar ist, die Aufnahmen eines toten Kindes derart rückhaltlos in einer Spielhandlung zu verwenden. Und wenn das der Fall wäre – so ist die Inszenierung der Herausforderung nicht gewachsen. Rajabs kleine, ferne, um Hilfe bittende Stimme wird beständig überdröhnt von auffälligen Kamerabewegungen und extremen Close-ups, von virtuos dargebotenen Wut- und Tränenausbrüchen der Schauspieler*innen in der »Zentrale«. Es hätte dieser Nachhilfe, dieser emotionalen Verstärkung eines per se erschütternden Geschehens nicht bedurft. Und die Entscheidung, den Film um den Goldenen Löwen konkurrieren zu lassen, ist unglücklich. Wenn die Jury ihn nicht mit mindestens einem Spezialpreis auszeichnet, wird man ihr vorwerfen, sie habe die Stimme Rajabs nicht gehört.

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