Venedig: Was war denn da los?
Jim Jarmusch. Foto: ASAC/Venice International Film Festival
Jim Jarmusch kann sich über den Hauptgewinn auf einem der Top-Festivals freuen. Für einen Familienfilm, der trotz Top-Besetzung durch coole Zurückhaltung glänzt. Es war nicht die einzige Überraschung der Löwen-Verleihung in Venedig
Was hat man nicht alles gesehen auf diesem Festival! Emma Stone als Alien im Grobstrickanzug in »Bugonia« von Yorgos Lanthimos. Ein Franksensteinsches Schloss, in dem aus einem Leichenberg ein Monster mit Sexappeal entsteht bei Guillermo del Toro. Eine Vision vom nuklearen Ende der Welt in Kathryn Bigelows »A House of Dynamite«. Einen weltberühmten Filmstar in der Krise, der aussieht wie George Clooney… Putin auf dem Weg zur Präsidentschaft… Eleonora Duse auf einer Party mit Mussolini.
Und dann gewinnt Jim Jarmusch. Der ikonische Indie-Regisseur, der seine Filme sonst immer nach Cannes geschickt hat. Mit einem Beitrag, der trotz glanzvoller Besetzung – Tom Waits, Adam Driver, Charlotte Rampling, Cate Blanchett – vom Aufwand her ein, nun ja, lässiger Familienfilm ist. »Father Mother Sister Brother« besteht aus drei Episoden, dreieinhalb Schauplätzen und bewusst minimalistischen, verzahnten Dialogen, die darum kreisen, was Kinder von Eltern nicht bekommen – aber vielleicht von ihren Geschwistern. Man hätte sich gewünscht, es wäre ein stärkerer Jarmusch-Film gewesen, der da prämiert wird. Aber den 72-Jährigen mit der immer noch standhaften Wuselfrisur auf der Bühne zu sehen, hat etwas Befreiendes. Man könnte an einen Akt der Subversion glauben.
Dass der zweitwichtigste, der Große Preis der Jury, an Kaouther Ben Hanias »The Voice of Hind Rajab« ging, das Dokudrama über ein palästinensisches Mädchen, das im letzten Jahr im nördlichen Gaza auf der Flucht mit seiner Familie in einem Auto starb, war dagegen nicht überraschend. Der Aktualität des Films, seiner immersiven Technik konnten sich weder Publikum noch Kritik entziehen, und die Filmschaffenden, die im Vorfeld eine Stellungnahme des Festivals zum Gaza-Krieg eingefordert hatten, müssten zufrieden sein. Die Regisseurin nutzte ihre Dankrede für ein aktivistisches Statement gegen das »kriminelle israelische Regime«, für ein freies Palästina, das offenbar keine größere Reaktion auslöste. »The Voice of Hind Rajab« ist inzwischen auch als Tunesiens Oscar-Einreichung nominiert.
Im Übrigen aber reagierte die Jury unter dem Regisseur Alexander Payne auf eine aufgeheizte Stimmung – so viele Stars, vor und hinter der Kamera, so viel Politik, im geopolitischen Maßstab sogar – geradezu trotzig. Die Auszeichnungen gingen mit frappierender Konsequenz an die stillen, gemäßigten Arthousefilme, gern mit sozialrealistischer Note. Darstellerpreise bekamen Toni Servillo als skrupulöser, nachdenklicher Präsident in »La Grazia« und Xin Zhilei, die im chinesischen Beitrag »The Sun Rises on Us All«, einer Mischung aus Melodram und Milieustudie, eine von Schicksalsschlägen und Schuld gequälte Frau spielt; der Drehbuchpreis ging an Valérie Donzelli und Gilles Marchand für »À pied d’oeuvre« (»At Work«), die Geschichte eines Fotografen, der seinen Job aufgibt, um einen Roman zu schreiben, und verarmt. Der Dokumentarfilm »Sotto le nuvole« (»Under the Clouds«) von Gianfranco Rosi (Spezialpreis der Jury) verbindet die Beobachtung des Lebens in der neapolitanischen Küstenregion mit Reflexionen über ihre antike Geschichte. Selbst der Regie-Löwe für Benni Safdi fügt sich ins Bild: »The Smashing Machine« mit Dwayne Johnson ist kein heroischer Kracher im »Rocky«-Stil, sondern zeigt den Extremkampfsport-Zirkus in einer Ära, in der es so etwas wie einen proletarischen Gemeinsinn unter den Kombattanten gab. Kunst, sagte Jarmusch bei der Preisverleihung, müsse Politik nicht direkt behandeln, um politisch zu sein: »Sie kann Mitgefühl erzeugen und eine Verbindung zwischen uns, die der erste Schritt ist, um unsere Probleme zu lösen.«
Deutschland geht übrigens nicht leer aus der Konkurrenz. Luna Wedler bekam den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Jungschauspielerin in Ildikó Enyedis großartigem »Silent Friend« (auch Preis der Interfilm-Jury), der auf eigene Art Verbindungen stiftet: zwischen drei Generationen von Wissenschaftler*innen und den Pflanzen im Alten Botanischen Garten von Marburg. Meditative Szenen unter einem riesigen Ginkgo-Baum wechseln mit Zeitrafferaufnahmen von Keimlingen, Wurzeln, Blättern, die von Strömen elektrischer Energie durchflossen werden. Ein sanfter Öko-Thriller könnte man sagen, eine Reflexion über die biologische Produktivkraft, von der alles Leben auf der Erde abhängt – und die wir im Begriff sind zu vernichten. Zu sehen gibt es hier ganz wunderliche Dinge. Eine Geranie, die Tore öffnet, zum Beispiel.
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