Kritik zu Anatomie eines Falls

© Plaion Pictures

2023
Original-Titel: 
Anatomie d'une chute
Filmstart in Deutschland: 
02.11.2023
L: 
150 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Justine Triet gewann mit ihrem Beziehungsdrama die Goldene Palme in Cannes. Sandra Hüller spielt die Angeklagte in einem philosophisch fundierten Prozessthriller, der das schlussendliche Urteil dem Kino­zuschauer überlässt

Bewertung: 5
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Der Stand einer Beziehung lässt sich auch in Dezibel messen. Die Ehe von Sandra und Samuel ist von Zweisamkeitsharmonie weit entfernt. Wie anders lässt sich erklären, dass der im Dachstuhl seines Hauses handwerklich aktive Samuel mit »P.I.M.P« des Rappers 50 Cent (als Instrumentalversion in Endlosschleife) einen ohrenbetäubenden Lärm anfacht, während seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, ein Stockwerk tiefer mit einer attraktiven jungen Doktorandin über Literatur und Leben, Wahrheit und Fiktion reden will. »P.I.M.P« macht eine verständliche Konversation unmöglich und erstickt Sandras signalstarken Flirtversuche im Keim. Justine Triets Film »Anatomie eines Falls« lässt von Anfang an keine Illusionen über das Zusammenleben von Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis) zu; dessen Karriere als Autor stagniert seit Längerem. Schauplatz sind die französischen Alpen oberhalb von Grenoble. Es ist winterlich kalt. Die Natur spiegelt die Gefühlswelt der Figuren.

Triet hat im vergangenen Mai mit »Anatomie eines Falls« die Goldene Palme in Cannes gewonnen. Der Erfolg speist sich aus mehreren Quellen: einer komplexen Geschichte, die Beziehungsdrama und Prozessthriller miteinander verwebt; fabelhaften Darstellern und philosophischem Tiefgang. In diesem Palme-d'Or-Gewinner ist sogar ein Hund preiswürdig; le chien Messi, der als »Snoop« eine zentrale Rolle spielt, erhielt in Cannes den »Palm Dog Award«.

Auf den aufregenden Einstieg folgt ein Schock. Samuel liegt tot in einer Blutlache im Schnee vor dem Haus. Unfall, Selbstmord oder Mord? Das entscheidet sich vor Gericht, wo sich Sandra mithilfe des ihr persönlich zugeneigten Anwalts Vincent (Swann Arlaud) gegen die aggressive Brillanz des Staatsanwalts (Antoine Reinartz) behaupten muss. Simon Beaufils' Kamera beobachtet alles, was einen guten Prozessfilm ausmacht: den bisweilen komödienhaft inszenierten Aufmarsch der Experten, Kreuzverhör und Indizien-Analyse, den hitzigen Austausch von Argumenten und die mögliche (oder unmögliche) Feststellung von Schuld. Als Zeuge tritt auch der Sohn des Ehepaars auf, der elfjährige Daniel (schmerzlich intensiv: Milo Machado Graner). Er ist seit einem Unfall sehbehindert – physisch beeinträchtigt und durch den Dauerkonflikt der Eltern psychisch traumatisiert.

In Rückblenden rekonstruiert Triet Szenen einer kaputten Ehe. Sie kulminieren – in der Tradition des Theaterstücks »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« von Edward Albee – in einem Streit, in dem Sandra und Samuel sich gleichsam bei lebendigem Leib gegenseitig die Haut vom Körper reißen. Hüller und Theis gehen an die Grenzen des Darstellbaren: ein Triumph der Schauspielkunst. Hüller hält als Sandra die besseren Karten in der Hand, sie erscheint intellektuell überlegen, beherrschter als der impulsive Samuel. Immer wieder zieht sie sich jedoch in sich selbst zurück, zeigt der Welt eine spröde-abweisende Seite, was ihre Sympathiewerte vor Gericht beeinflusst. Als Autorin beutet diese Frau skrupellos Details aus dem Familienleben für ihre Romane aus – sogar ein Manuskript ihres Mannes verwandelt sie in Material für ein Buch.

Doch ist sie schuldig, eine Mörderin? Die Schwierigkeit, zum Kern von Wahrheit vorzudringen, behandelt Triet auf mehreren Ebenen. In Person von Daniel, dessen scheinbar schlüssige Aussage angesichts seiner Sehbehinderung Zweifel nährt. Das Thema wird überdies in gleich drei Sprachen verhandelt: Sandra steht als Deutsche in Frankreich vor Gericht, wo sie sich mit Englisch besser auszudrücken weiß als auf Französisch: »I did not kill him.« »Die Anatomie eines Falls« stößt allein schon sprachlich an ihre Grenzen. Nach zweieinhalb Stunden hat der Film ein detailreiches Bild gezeichnet, das sich mit Faszination betrachten lässt – aber keine eindeutige Botschaft aussendet. Das Urteil bleibt dem Publikum überlassen.

Meinung zum Thema

Kommentare

Der Film ist einerseits Kriminalfall andererseits ein Retrospektiv angelegtes Beziehungsdrama. Die Intensität des Films rührt zum einen aus der Unlösbarkeit des Falls, es gibt keine Indizien oder Zeugen für einen Mord, zum anderen aus der Beziehungskonstellation der Filmfiguren Sandra und Samuel. Sie ist als Schriftstellerin erfolgreich, während Samuel in seinen Versuchen Schriftsteller zu werden scheitert. Er stilisiert sich als ihr Opfer, im Vorwurf, sie bestimme sein Leben völlig. Während sie ihm seine Handlungsfähigkeit vor Augen führt.
Ich fand die Gerichtsszenen einerseits theatralisch und absurd, andererseits transportieren sie die Innenschau der Beteiligten Personen in einen öffentlichen Raum. Das funktioniert, weil die Figur Sandra auch vor Gericht sehr offen und authentisch nach Erklärungen sucht und weil der gemeinsame Sohn Daniel all das, was er im Gericht hört, zu seiner Version der Geschichte zusammen stellt. Der Film spart die Perspektive Samuels eigentlich aus. Gleichwohl wird Samuel, seine Rolle durch die vor Gericht vorgespielte, eigentlich als Audio aufgenommene Streitszene vom Tag vor seinem Tod deutlich und präsent. Der Film über die männliche Perspektive fehlt aber doch.

"Sie war die Mörderin", sagte mein Mann, als der Film zu Ende war. Ich war schockiert. "Sie war nicht die Mörderin", antwortete ich. Schließlich hatte er sich für den Thriller entschieden - ich für die Paarbeziehung. Es ist meisterhaft, wie die Regisseurin Triet die Fährten für eine Interpretation des Films als Thriller und als öffentliche Enthüllung im Gerichtssaal einer Paarbeziehung gelegt hat.

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt