Mediathek: »Becoming Charlie«

»Becoming Charlie« (Miniserie, 2022). © ZDF/Tatiana Vdovenko/Philip Jestädt

© ZDF/Tatiana Vdovenko/Philip Jestädt

Immer irgendwo dazwischen

Charlie (Lea Drinda) führt ein Leben auf Abruf. Sie – von ihrer Umwelt als Frau wahrgenommen – arbeitet für einen Pizzaservice. Ihre Aufträge erhält sie über das Handy. Wenn der Chef ruft, muss sie lospreschen. Dieses Muster prägt fast ihr ganzes Leben. Ihre psychisch kranke Mutter (Bärbel Schwarz) versäumt Zahlungsfristen, Charlie muss sich kümmern. Die Mutter ist bei Charlies Tante Fabia (Katja Bürkle) verschuldet, Charlie muss mit ihren kargen Ersparnissen einspringen. Immerhin gibt Hausmeisterin Fabia der Nichte Gelegenheit, das Geld wieder zu erarbeiten. Charlies Leben spielt sich ab zwischen Hochhaussiedlung, Autowerkstatt, Fitnessstudio. Die beste Freundin Alina (Aiken-Stretje Andresen) ist hochschwanger und fest gebunden. Als Charlie sie, nicht zum ersten Mal, auf die Lippen küsst, wird sie von Alina zurückgestoßen. »Das« wolle sie nicht mehr.

Weil das Geld vorn und hinten nicht reicht, greift Charlie schon mal in anderer Leute Taschen. Und wird in der Regel erwischt. So lernt sie die Psychologiestudentin Ronja (Sira-Anna Faal) kennen. Spontan spricht die aufgeweckte junge Frau an, was in Charlies Umgebung ansonsten übersehen oder ignoriert wird – sie fragt, welches Pronomen Charlie bevorzuge. Die Antwort: »Kein Plan.«

Charlie kennt kaum Pausen. Da bleibt keine Zeit, sich über die Geschlechteridentität Gedanken zu machen. Für Charlie ohnehin ein unbekanntes Fremdwort. So wie non-binär. Aber Charlie spürt Befremdung und Verunsicherung, setzt sie in Rap-Reime um. Bei einem Streitgespräch mit der Mutter bricht es schließlich aus ihr heraus: Sie wolle nicht als Frau gesehen werden.

Die Mutter zeigt kein Verständnis. In dieser Erfahrungswelt fällt es Charlie schwer, ihre Gedanken zu teilen. Mit wem auch. Wer könnte Charlie raten? Notgedrungen sucht sie Informationen im Internet. Kein Ersatz für ein einfühlsames Gespräch. Ronja immerhin zeigt ihr, wie sie die ungeliebten Brüste abkleben kann.

Lion H. Lau, selbst non-binär, hat die Drehbücher zu der sechsteiligen Serie »Becoming Charlie« geschrieben und hält sie frei von appellativen oder päda­gogisierenden Passagen. Kein Nischenprodukt, sondern schlicht eine gute Geschichte, milieusicher und flott erzählt, von allen Beteiligten natürlich und mit einer überzeugenden Selbstverständlichkeit gespielt, vorneweg Lea Drinda – mal koboldhaft frech, mal zornig rebellierend, mal vor lauter Schmerz nah am Zusammenbruch.

Das Regieteam Kerstin Polte und Greta Benkelmann inszeniert mit feinem Gespür für Charlies Lebenswelt, wirklichkeitsnah, temporeich und klischeefrei. Für den modernen Anstrich sorgen ins Bild springende Einblendungen, die zum Beispiel über den Betrag in Charlies Spardose informieren. Der Wert schrumpft auf 0,00, als die Tante schroff ihre Außenstände eintreibt.

»Becoming Charlie« besteht aus sechs jeweils circa fünfzehn Minuten langen Episoden und wurde binnen weniger Wochen produziert, ohne dass Abstriche bei der Qualität erkennbar wären.

Trailer

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt