Die dunkle Seite des Animationsfilms

Krass Animiert
»Memoiren einer Schnecke« (2024). © Capelight Pictures

»Memoiren einer Schnecke« (2024). © Capelight Pictures

Sieht ganz knuffig aus, so mit der Knete. Ist aber kein Kinderfilm. Adam Elliot geht in »Memoiren einer Schnecke« dahin, wo es wehtut. Damit steht er in die dunkle Seite des Animationsfilms

1928 zeigt der gut sechs­minütige »Eveready Harton in Buried Treasure« (Anonym) die Abenteuer eines kleinen Mannes mit Riesenpenis in einer fröhlich über die Gattungsgrenzen hinwegkopulierenden Welt. 1943 entfesselt »Tex Avery in Red Hot Riding Hood« die Geilheit im großen bösen Wolf und die Sexiness in Rotkäppchen wie in ihrer Großmutter. 1972 verpasst die Motion Picture Association (MPA) Ralph Bakshis »Fritz the Cat« ein X-Rating und setzt ihn damit einem Porno gleich; die Kurven sind üppig und das Treiben ist zügellos, denn der Kater kennt weder Scham noch Skrupel. 2004 hüpfen in »Team America: World Police« von Trey Parker und Matt Stone, einer Persiflage des Bruckheimer’schen Krach-und-Krawall-Kinos, die darstellenden Marionetten in die Kiste, freilich nicht die Augsburger. Und 2016 kommt es im von Conrad Vernon und Greg Tiernan verantworteten »Sausage Party« zu einer wilden Orgie unter den Lebensmitteln eines Supermarktes und einem Frontalangriff auf Sitte und Anstand im Animationsfilm.

Wenn der Trickfilm sich befreit und das Gebiet des Kinderfilms verlässt, auf das eine vor allem im Westen virulente Konvention ihn hartnäckig beschränken will, gerät er auf unwegsames Gelände. Untiefen, Fallgruben, Dornendickicht, Matsch, Sumpf und Gatsch. Das Ungeformte und das Schauerliche, das Unerwünschte und das Abgespaltene feiern in diesem Reich fröhliche Urständ. Hier überleben die Urinstinkte und die Triebwesen, die von allen verlassenen Geister und die inneren Dämonen, das Ungezügelte und das Schambehaftete. Fernab des zivilisierten Raums kennt das Böse kein Erbarmen, die Hässlichkeit keinen Boden und der Normverstoß keine Grenze. Feuerwerke, die den Himmel über Märchenschlössern illuminieren, sind dieser Welt unbekannt. Sie ist nicht unschuldig, sie ist nicht keusch. Sie ist nicht jugendfrei, und sie ist nicht nett zu Kindern.

»Mary & Max« (2009). © MFA+ Filmdistribution

Adam Elliot, dessen neuer Film jetzt ins Kino kommt, weiß davon ein Lied zu singen. Seine Methode bezeichnet der 1972 geborene Australier – sein »Harvie Krumpet« wurde 2004 mit einem Oscar für den besten animierten Kurzfilm ausgezeichnet – als »Clayography«; er verwendet also die klassische Technik der Stop-Motion-Animation von Knetfiguren (»Claymation«), um autobiografische Geschichten zu erzählen. Arbeiten mit Plastilin als psychotherapeutische Übung mit dem Ziel der Bewältigung von Kindheitstraumata und sonstigen Schrecken. Von Alkoholismus über Fresssucht und Depression bis hin zu Suizid reicht dabei das Spektrum, und es ist schon erstaunlich, wie es Elliot dennoch gelingt, Vertrauen in eine fragile Existenz und letztlich Zuversicht zu vermitteln.

Wie zum Beispiel auch 2009 in »Mary & Max«, dessen Außenseitertitelhelden ein blindwütiger Zufall zusammenbringt. Also entwickelt sich zwischen der vernachlässigten achtjährigen Mary Daisy Dinkle in Australien und dem übergewichtigen 44-jährigen Asperger-Autisten Max Jerry Horowitz in New York City eine Brieffreundschaft, die über viele Jahre hinweg und so manchem Rück- und Tiefschlag zum Trotz Bestand hat. Einsame Seelen in einer feindlichen Welt, die einander beistehen. Thema auch in Elliots aktuellem Film »Memoiren einer Schnecke« (Memoir of a Snail), in dem Grace Pudel ihrer Lieblingsschnecke Sylvia ihre Lebensgeschichte erzählt. Anlass für diese Rückschau auf eine nicht enden wollende Reihe von Schicksalsschlägen ist der Tod einer unkonventionellen alten Dame, Graces bester Freundin Pinky, die sich nie hatte ins Bockshorn jagen lassen. Wieder fährt Elliot schwere Geschütze auf: Verlust der Familie, Messie-Syndrom, sexuelle Ausbeutung, Homophobie, religiöser Wahn. Wieder strömen die Tränen nahezu ohne Unterlass, wieder ist der Galgenhumor ein rettender Anker, und wieder blinzeln die Augen am Ende hoffnungsvoll in die Sonne aus Plastilin.

Elliot ist im Übrigen nicht der Einzige, der dem Schrecken des Heranwachsens mit den Instrumenten der Trickfilmerei beizukommen versucht. Technisch ähnlich gelagert, handelt »Mein Leben als Zucchini« von Claude Barras (2016, nach einem Drehbuch von Céline Sciamma) von Kindern, die in einem Waisenhaus versuchen, mit den Folgen von häuslicher Gewalt, dysfunktionalen Familienstrukturen und Machtmissbrauch fertigzuwerden. ­Wohingegen Florence Miailhe sich des aufwendigen Verfahrens der Öl-auf-Glas-Malerei bedient, um in »Die Odyssee« (2021) das Schicksal von Flüchtlingskindern darzustellen. Eine Geschichte aus Furcht und Schrecken, in strahlend farbige Bilder gesetzt; wie in einem Brennglas eingefangen: die Bitternis der Gegenwart.

»Mein Leben als Zucchini« (2016). © Polyband

Ambivalenz ist eines der distinktiven Merkmale des an Erwachsene gerichteten Trickfilms. Oft klafft zwischen Bild und Bedeutung ein Abgrund, in dem das Schöne und das Krasse aufeinandertreffen. Wie im Werk des spanischen Filmemachers Alberto Vázquez. Gemeinsam mit Pedro Rivero zeichnet er für »Birdboy: The Forgotten Children« (2015) verantwortlich. Ein Coming-of-Age-Horrordrama, in dem niedliche Tierchen mit großen Kugelköpfen aus großen runden Augen in eine verwüstete und verrohte Welt blicken. 2022 lässt Vázquez mit »Unicorn Wars« einen unwahrscheinlichen Splatter-Kriegsfilm folgen, in dem putzige Teddybären gegen bezaubernde Einhörner antreten. Nicht wenige nahmen Vázquez diese Attacke auf das Niedliche übel, nannten den Film gar deranged, weil darin Liebreiz und Unschuld in schrecklichster Weise abgeschlachtet würden. Andere suchten Zuflucht in der Kategorie »Satire«. Doch eigentlich erteilt da nur einer der Lüge eine Absage und zertrümmert den Projektionsapparat, den der Mensch auf das Tier richtet und mit dessen Verzerrungen – anthropomorphisierend, idealisierend – der Mensch das eigene gestörte Verhältnis zum Mitgeschöpf zu kaschieren versucht.

Gegen die Niedliche-Tierchen-Propaganda im Animationsfilm tritt auch Martin Rosen mit seinem bedauerlich schmal gebliebenen Werk an: »Watership Down« (1978) und »The Plague Dogs« (1982), zwei denkwürdige Adaptionen von Romanen des britischen Schriftstellers Richard Adams und herrliche klassisch handgemalte Zeichentrickfilme. »Watership Down«, der weitaus bekanntere und erfolgreichere der beiden, handelt von einer Kaninchensippe, die ihren Lebensraum an die menschliche Bautätigkeit verliert und sich in feindlicher Umgebung überdies gegen Artgenossen behaupten muss. »The Plague Dogs« schildert die Flucht der gequälten Hunde Snitter und Rowf aus einem Versuchslabor und durch den malerisch-schroffen Nordwesten Englands aus der Perspektive der erbittert Gejagten. Die Traurigkeit, die Rosen in diesem sträflich vernachlässigten und weithin unterschätzten Meisterwerk allmählich entfaltet und kontinuierlich vertieft, entspricht der über den Tod von Bambis Mom. Ein Brocken also, umso schwerer, als er realistisch bleibt.

Als Protagonisten eines gesellschaftskritischen Symbolbildes fungieren hingegen die Hunde in Wes Andersons Stop-Motion-Animation »Isle of Dogs« (2018). Das beginnt recht herzerwärmend und eher harmlos als Suche eines Jungen nach seinem vierbeinigen besten Freund, der auf eine Müllinsel verbannt wurde, und wächst sich unter den staunenden Augen der Zuschauerin zu einer Darstellung von Ausgrenzung, Deportation und Massenmord aus. Aus der postapokalyptisch überfluteten Welt des diesjährigen Oscargewinners »Flow« (Gints Zilbalodis) ist der Übeltäter Mensch dann bereits getilgt. Bleibt ein zusammengewürfelter Haufen Viecher, dem gelingt, was der untergegangenen Gattung notgetan hätte: Vertrauen zueinander zu entwickeln, zusammenzuarbeiten, empathisch zu sein. So erwächst durch die Vermittlung von Stellvertretertieren aus einer dystopischen Ausgangssituation ein utopischer Entwurf. Der zudem mit einer Computeranimation besticht, die sicher zwischen naturalistisch und abstrakt balanciert und dem Hyperrealismus wie der Supersauberkeit kommerzieller 0815-CGI-Szenarien entkommt.

Ein Trickfilm, der etwas auf sich hält und etwas zu sagen hat, hat es sowieso nicht nötig, über seine Machart zu täuschen. Herausragendes Beispiel: Anders Rønnow Klarlunds »Strings« (2004), ein klassisches Fantasy-Epos und ein opulenter Historienfilm, der seine große Geschichte über große Themen – Liebe, Hass und Tod, Krieg, Frieden und Verrat – mit Hilfe von etwa ein Meter hohen Marionetten erzählt. Rønnow Klarlund macht aus der Not eine Tugend, indem er die Fäden der Figuren als zentrales narratives Motiv einsetzt und Fragen nach Selbst- und Fremdbestimmung, kollektiver Verbundenheit und Vereinzelung an ihnen aufhängt. Auf dieser (philosophischen) Ebene ist nicht nur die Identifikation mit den Marionetten möglich – die unter allen Puppen ja immer schon die fragilsten und verwundbarsten waren –, sondern auch das grandiose Pathos einer gewagt geglückten Menschheitsmetapher.

Manchmal dient die Animation des scheinbar Unbelebten auch »einfach nur« der möglichst präzisen Vorstellung des sprichwörtlich »Unvorstellbaren«. Die Palette der dabei zum Einsatz kommenden Mittel ist breit und reicht von klassischer Narration bis zur experimentellen Explosion. 1986 erzählt Jimmy T. Murakami in »When the Wind Blows« vom Rentnerehepaar Bloggs, das (freilich vergeblich) versucht, den Fallout eines Atomschlags zu überleben; immerhin habe man auch den Zweiten Weltkrieg überstanden, und »die da oben« würden schon wissen . . . Murakami kombiniert Handgezeichnetes mit echten Minirequisiten, den Score liefert Roger Waters von Pink Floyd. 2007 schildert Marjane Satrapi in den schwarz-weiß stilisierten Tableaux von »Persepolis« – die dem gleichnamigen autobiografischen Comic Reverenz erweisen – ihr Aufwachsen während der Iranischen Revolution. 2008 verarbeitet Ari Folman in »Waltz with Bashir« Erlebnisse während des Libanonkriegs 1982 sowie das Massaker von Sabra und Shatila. 2018 stellen Cristóbal León und Joaquín Cociña mit »The Wolf House« eine Variation über das Thema der chilenischen Diktatur vor. Sie bedienen sich des gesamten Trickfilmarsenals, um schwindelerregende Unschärfe zu erzeugen: Alles ist andauernd in Bewegung, Bedeutung zerfällt im Moment ihres Entstehens, der Sinn blitzt, wenn überhaupt, immer nur augenblicksweise am Rande des Sichtfelds auf.

Hier kommt der animierende, also der beseelende Film als bildgebendes Verfahren des Unbewussten zu sich selbst und betritt ureigenes Terrain. Die Vertreibung aus dem Paradies hat längst schon stattgefunden. Hier herrschen Traumlogik und Alb, hier verläuft die Traditionslinie hin zu den Meistern des Irrealen, Surrealen, Abstrusen und Absurden. Hin zu den Werkbänken, an denen der Tscheche Jan Švankmajer klassische Stoffe buchstäblich mit Fleisch und Knochen versieht und die US-amerikanischen Zwillingsbrüder Stephen und Timothy Quay aus allerlei Krimskrams ihre filigranen Verhexungstückchen spinnen. Hin zur Staffelei, an der René Laloux allegorische Science-Fiction-Märchen malte. Hin zum Höllenschlund, den hinab der von Special-Effects-Wizard Phil Tippett geschaffene »Mad God« (2021) Soldaten auf Mission ohne Wiederkehr schickt. Ein Reich des Grauens. Zutritt für Kinder untersagt.

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