Kritik zu Caught by the Tides

© Rapid Eye Movies

2024
Original-Titel: 
Feng liu yi dai
Filmstart in Deutschland: 
15.05.2025
L: 
111 Min
FSK: 
12

Der neue Film von Jia Zhang-ke (»A Touch of Sin«, »Asche ist reines Weiß«) ist eine Zeitreise durch zwei Jahrzehnte China und zwanzig Jahre einer glücklosen Liebe. Ein oft fast essayistisch anmutendes Werk, in dem kaum gesprochen wird

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Diese Szenen einer Liebe kommen ganz ohne eigentliche Liebesszenen und ohne romantische Momente aus. Nie sehen wir die Protagonisten zärtlich miteinander, und über weite Strecken sind sie sich auch äußerlich fern. Was sie zusammenhält, was Qiao (Zhao Tao, Lieblingsschauspielerin und Ehefrau des Regisseurs) dazu bewegt, Bin (Zhubin Li, ebenfalls immer wieder Star in den Filmen von Jia Zhang-ke) über Tausende Kilometer hinweg nachzureisen und ihn zu suchen, bleibt ganz im Ungewissen. Und ist damit nur einer von vielen Aspekten, die »Caught by the Tides« mit größter Nonchalance offenlässt. Die Dinge sind, wie sie sind, und zugleich ist alles immer im Fluss.

So erzählt der Film nicht nur von einer Liebe, die unter sehr schlechten Sternen steht und Qiao doch über zwanzig Jahre lang in ihrem Bann hält, sondern auch von einem China, das in dieser Zeit tiefgreifende Veränderungen durchmacht. Der rasende Fortschritt des Landes, das wie in den früheren Filmen Zhang-kes so viel mehr als nur Hintergrund der Handlung ist, spiegelt sich bereits in den verschiedenen Qualitäten und Materialitäten der Bilder, die der Filmemacher tatsächlich bereits seit Anfang der 2000er Jahre gedreht hat. Immer wieder besuchte er verschiedene Regionen und Menschen und nahm sie auf, zunächst auf DV und dann mit immer besseren Digitalkameras, etwa der Arri Alexa. 

So mutet der Film vor allem anfangs mit seiner Montage oft disparater, vor allem zu Beginn auch dokumentarischer Szenen mitunter an, als blättere man durch ein Skizzenbuch: Mal sehen wir Gruppenbilder von Arbeiterinnen und Arbeitern, dann ruinöse Wohnviertel oder eine Kamerafahrt entlang belebter Straßenszenen, dann wieder kurze, wie zufällige Momente aus dem Leben der Hauptfiguren.

Überlässt man sich dem Fluss der Bilder, also gewissermaßen auch den Gezeiten des Filmtitels, kristallisiert sich langsam die Handlung heraus: Wie Qiao, die niemals zu sprechen scheint, in Datong im Norden Chinas zu Beginn des neuen Jahrhunderts als Tänzerin und Sängerin sowie Model bei Modenschauen arbeitet und in einer Disco Bin kennenlernt. Die Beziehung wirkt von Anfang an belastet und quälend. In einer bemerkenswerten Szene in einem Bus, die genauso auch Teil einer modernen Tanzperformance sein könnte, will die verzweifelte Qiao gehen, wird von Bin grob aufgehalten und in den Sitz zurückgestoßen, steht wieder auf und will gehen, wird wieder aufgehalten und zurückgestoßen, und so weiter – acht Mal, neun Mal, wie in einer Endlosschleife gefangen.

Dann macht sich der beruflich frustrierte Bin einfach aus dem Staub, reagiert nicht mehr auf Qiaos SMS, zieht in eine ferne Provinz, wo er ins Immobilienbusiness einsteigt. Jahre später macht sich Qiao, die ihn nicht vergessen kann, auf die weite Reise, ihn zu suchen, samt epischer Fahrt auf dem Jangtse, die der Film in grandiosen Bildern zeigt. Es ist eine mythische Passage an majestätischen Landschaften und heruntergekommenen Städten vorbei, in eine neue Zeit: zu den Baustellen der gewaltigen Drei-Schluchten-Talsperre. Während Bin sich in der Region auf zwielichtige Geschäftspartner eingelassen hat, sieht sich Qiao dort mit Straßengangstern konfrontiert, denen sie allerdings so clever wie mutig Paroli bietet. Bis sie Bin wiedersieht, wird allerdings noch viel Wasser den Fluss hinabfließen . . .

Mit »Caught by the Tides« erweist sich Jia Zhang-ke abermals als einer der avanciertesten und vielschichtigsten Erzähler des chinesischen Kinos. Seine hier so fragmentarische Erzählweise bezieht sich ganz vielfältig auf seine eigenen früheren Filme – das fängt schon bei den Namen und Geschichten seiner Hauptfiguren an – und zeichnet zugleich mit so beiläufig wirkenden wie präzisen Strichen ein Panorama der chinesischen Gesellschaft im Wandel, mit deutlich kritischem Ton, doch nur selten plakativ, bis er in der Zeit der Covid-Pandemie ankommt. Hier findet die unglückselige Liebe zwischen den inzwischen deutlich gealterten Qiao und Bin einen wunderbar pointierten, befreienden Schlusspunkt.

Wie geschickt der Regisseur mit seinem Material »jongliert«, wie treffend er historische Marker setzt und wie er aus scheinbar banalen Situationen – etwa der Begegnung Qiaos mit einem sprechenden Dienstleistungsroboter im Supermarkt – dichte Miniaturen erschafft, entwickelt eine Poesie, die das Vergehen der Zeit und auch die Beobachtung ihres Vergehens zum eigentlichen, tiefgründigen Thema des Films macht. Wie es in einem der zahlreichen stilistisch ganz verschiedenen Songs im Film heißt: »Die Welt ist von Dauer, doch wir sind nur auf der Durchreise.«

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt