Apple TV+: »Mr. Scorsese«
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Eine ambitionierte Dokuserie von Apple TV+ taucht tief ein in Martin Scorseses filmisches Schaffen. In Rebecca Millers (»Pippa Lee«) kurzweiligem Fünfteiler kommen dazu nicht nur eine schier endlose Reihe prominenter Schauspieler und Kollegen zu Wort, deren Aufzählung allein schon einen eigenen Artikel erfordern würde. Es sind aber vor allem Mitarbeiter hinter den Kulissen, darunter die Cutterin Thelma Schoonmaker, die verdeutlichen, wie der Regievirtuose tickt. Wie detailbesessen – und selbstzerstörerisch – er in seiner ungestümen Kreativität tatsächlich ist.
Den roten Faden durch das filmische Universum knüpft ein ausführliches Werkstattgespräch. Dass Scorsese nicht nur eloquent und verblüffend aufrichtig im Hinblick auf Skandale und Fehltritte ist, weiß man aus Interviews, die er aufgrund seiner jahrzehntelangen Prominenz als Filmschaffender gab. In den pointierten Gesprächsfäden, die Miller entlang des chronologisch thematisierten Werks knüpft, ergeben sich dennoch neue Perspektiven.
Gewiss, einiges davon ist längst bekannt. Etwa dass der junge Marty in der sommerlichen Hitze New Yorks zur Linderung seines lebensbedrohlichen Asthmas vom Vater täglich in klimatisierte Kinosäle gebracht wurde – wo der Junge begierig die Filmgeschichte aufsog. Damals gezeichnete Storyboards belegen die verblüffende Präzision, mit der bereits der 10-Jährige den kinematographischen Mechanismus durchschaute. Kurzfilme, die später während der Filmschool entstanden, dokumentieren das Wirken eines Frühvollendeten. Dem allerdings noch, so der Lehrer, »eine Philosophie« fehlte. Was will der junge Cineast eigentlich erzählen? Diese Frage zählt zu den Kernmotiven der Dokuserie. Miller zeichnet nach, wie der junge Scorsese in Little Italy praktisch inmitten eines authentisch sich abspielenden Mafiafilms aufwuchs – den er nach und nach auf die Leinwand bringen sollte.
Die Vorbildrolle von Salvatore »Sally Gaga« Uricola sowohl für einzelne Figuren als auch für die von Scorsese immer wieder porträtierte italoamerikanische Männlichkeit ist zwar auch keine Neuigkeit. Doch in einem der aufschlussreichen Momente des Fünfteilers erzählt dieser authentische Ex-Gangster, wie er sich auf der Leinwand in einer fiktiven Figur wiedererkannte – und verschämt das Kino verließ. Nachvollziehbar wird in der Dokureihe, inwiefern die exzessive Gewalt dieser Mafiamobster zugleich der kreative Motor für die Visualisierung von Scorseses filmischem Universum ist. Dynamische Bildfolgen – exemplarisch die sogartige Kamerafahrt durch eine Küche in »GoodFellas« – visualisieren stets ein und denselben Konflikt: das Triebleben von Männern, die darunter leiden, dass sie keine Beziehungen zu Frauen eingehen können.
»Die letzte Versuchung Christi«, bei der Jesus das – fantasierte – Glück mit einer Prostituierten auslebt, ist nur die Spitze des Eisberges einander ähnelnder Männerporträts. Wie Robert De Niro – der als amoklaufender Taxifahrer an der »Heiligen« (Cybill Shepherd) scheitert, um sich daraufhin der von Jodie Foster verkörperten »Hure« zuzuwenden – leben Scorseses Männer oft in einer katholischen Parallelwelt: getrennt von unerreichbaren Frauen.
Gewiss, in »The Age of Innocence« spielt Michelle Pfeiffer eine markante Frauenfigur. Und für die Selbstfindung in »Alice Doesn't Live Here Anymore« erhielt Ellen Burstyn nicht zufällig einen Oscar. Neben diesen positiven Ausreißern zeichnet Scorsese jedoch durchweg Frauenfiguren, die aus dem Tunnelblick toxischer Männer gezeigt werden. Diesen wunden Punkt spießt Almodóvar auf: »Scorsese ist das Musterbeispiel eines begabten Regisseurs, der von Frauen keine Ahnung hat, nicht einmal von ihrer dramaturgischen Funktion«. Reflektiert wird diese Thematik leider nur am Rande. Dennoch ist die furiose Dokureihe sehenswert. Sie verdeutlicht, dass sich Scorseses unermüdliche Kreativität jahrzehntelang aus einer selbstzerstörerischen Tendenz heraus speiste.
OV-Trailer
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