Kritik zu Was man von hier aus sehen kann

© Studiocanal

Aron Lehmann verfilmt den Roman von Mariana Leky als skurriles Märchen zwischen Aki Kaurismäki und Leos Carax

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»Es ist so schön«, sagt die sterbende Selma, »dass du mir zum Ende lauter Anfänge schenkst!« Der Optiker (Karl Markovics), dessen Namen niemand zu kennen scheint, ist schon ein Leben lang in Selma (Corinna Harfouch) verliebt, hat sich aber nie getraut, seine Liebesbriefe zu Ende zu schreiben, geschweige denn, sie abzuschicken. Doch bevor es zu spät ist, überschüttet er Selma damit und beginnt, ihr vorzulesen, einzelne fragmentierte Sätze, Momente, die ihr Leben zusammenfassen. Selma hat eine besondere Gabe. Sie kann den Tod vorhersagen. Allerdings weiß sie nicht, wen es trifft, denn immer wenn sie von einem Okapi träumt, verliert jemand in dem kleinen Dorf im Westerwald sein Leben. Und weil das jeder weiß, spricht es sich schnell herum, wenn das Traumokapi erneut auftaucht, und alle Bewohner verfallen in wilden Aktionismus. Bis dann der Tod seine Arbeit gemacht hat und allenthalben wieder Ruhe einkehrt. 

Die eigentliche Hauptfigur ist Luise (Luna Wedler), die den nur wenige Minuten älteren Martin liebt, seit sie denken kann, mit einem weißen Hund namens Alaska zusammenlebt und die auch eine Gabe hat. Immer wenn sie etwas sagt, an das sie nicht glaubt, fällt irgendwo etwas runter. Schließlich ist sie Selmas Enkelin. Sie begleitet der Film über einen Zeitraum von 30 Jahren zwischen Liebe, Trauer, Verlust und Erwartung hindurch bis zu einem möglichen Schlusssatz, der allerdings unvollständig bleibt. Heute gibt es auch im Märchen keine Lösungen mehr. 

Aron Lehmann (»Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel«, »Jagdsaison«) ist ein Meister der neuen deutschen Komödie, die Aki Kaurismäki ebenso viel verdankt wie Jos Stelling oder Leos Carax, diese Zutaten aber mit ein wenig Screwball aufmischt und damit tieftraurig und leichthändig witzig zugleich sein kann. Die ewig schlecht gelaunte Marlies (Rosalie Thomass) zum Beispiel hat nicht eine einzige Pointe und ist in ihrem ausgeleierten Norweger­pullover eine durchweg komische Figur. 

In der Märchenhaftigkeit seiner Inszenierung (allein die Sets zu finden, wenn man sie nicht bauen kann, ist eine Leistung) wird aus dem Dorf der Mittelpunkt einer skurrilen Welt, in der es keine Gesetze der Logik gibt, dafür aber die Macht der Intuition und Vorhersehung. Lehmann hat den schon reichlich schrägen Roman von Mariana Leky noch weiter zugespitzt, seine drei Teile in Rückblenden verschachtelt und für die sprachlichen Einfälle wunderbare Bilder gefunden. Dabei wechselt er die Tonlage mit jeder Einstellung, ohne dabei die Einheitlichkeit seines Filmes zu zerstören. 

Es gibt blutige Schockmomente ebenso wie anrührende Liebesszenen und einen mit sich selbst im Widerstreit gefangenen Optiker, der ständig versucht, seine beiden inneren Stimmen zum Schweigen zu bringen. Indem er die Grenzen des realistischen Erzählens mühelos hinter sich lässt, gelingt Lehmann ein neues Genre, zumindest aber die Variation der Komödie, die hierzu­lande sehr selten ist. Dies ist nach »Jagdsaison« bereits der zweite Lehmann-Film in diesem Jahr.

Meinung zum Thema

Kommentare

ich muss zugeben, dass der "Trailer" des Films mich angesprochen hat, aber dann habe ich nur die ersten 50 Minuten durchgehalten. Der Film ist aus meiner Sicht eine Aneinanderreihung von traurigen Momenten, die so sicherlich vorkommen können, aber warum muss das verfilmt werden? Ich fand die Überzeichnungen nicht gelungen. Ich habe das Buch nicht gelesen und hoffe, dass es besser ist als die Verfilmung. Vielleicht hat sich in den verbliebenen 50 Minuten, die ich nicht gesehen habe doch noch Alles zum Besseren gewendet, aber ich werde den film nicht weiter empfehlen.

Herzlichen Glückwunsch, zum Entschluss, nach 50 Minuten zu gehen. Ich hab weitergeschaut und habe dann einmal gelacht und einmal geweint (ja, das sind grandiose 5 Minuten von Optiker und Selma in ihrer antiken Wohnstube.). Aber dafür war das Ganze doch arg lang und bemüht.

Ein wunderbar poetischer Film, die eigenwilligen und teils bedauernswerten Charaktere sind sehr nuanciert gezeichnet durch die Darsteller*innen. Immer wieder überraschende Brechungen der Realität- dabei komisch und überzogen. Lachen und Weinen fast gleichzeitig, unbedingt und uneingeschränkt zu empfehlen!

Ein wundervolles Buch ! Eigentlich sehe ich mir von meinen Lieblingsbüchern die Verfilmungen nicht an, jedoch hat mich die Besetzung neugierig gemacht und ich bin überrascht, daß auch der Film das Zauberhafte des Buches einfangen konnte.
So lustig, tieftraurig und wahrhaftig schräg und ehrlich.
Und in der Trauer so viel Wärme und Liebe. Ich bin tiefberührt, wie die wundervolle, wortwitzige Sprache in Bilder umgesetzt wurde.

Puh .... Der Vergleich mit Kaurismäki ist aber vollkommen daneben gegriffen. Schräge Figuren, ein paar Kalendersprüche, oberflächliche Dialoge; habe mich selten so gelangweilt bei einem Film. War die Vorlage ein Kinder- oder Jugendbuch?

Ich gestehe, ich habe mich zunächst aus lauter Verwirrung gelangweilt. Dann habe ich mich entschieden, einfach die schrägen Charaktere und aberwitzigen Dialaloge zu genießen und am Ende war ich berührt wie selten. Ich bin mir sicher, das viele Bilder in meinen Träumen wiederkehren werden.

Ich habe keine Ahnung, woran es gelegen hat, aber der Film hat mich zu keiner Zeit abgeholt. Die Schauspieler waren ja allesamt erlesen, aber trotzdem, die Geschichte war nicht skurril für mich, sie war einfach flach. Ich habe die ganze Zeit gewartet, ob es eine ultimative Wendung gibt, aber leider nicht. Es genügt eben nicht, schrullige Figuren in einen Film zusammenzusperren, sie brauche auch ein Drehbuch, dass ihnen Raum gibt, den Zuschauer zu erreichen. Das war hier nicht der Fall.

Zugegeben, es ist ein ungewöhnlicher Film. Und wie es bei ungewöhnlichen Filmen halt so ist: Sie sind anders als andere und zugleich möchte man nicht, dass alle so sind wie der eine. Auch ich schaue mir gerne mal handlungsstärkeres Kino an, aber bei "Was man von hier aus sehen kann" darf die Seele baumeln und die eigene Phantasie mitspielen. Allein die Frage nach dem Sinn des Titels vermag m.E. eine spannende Diskussion auszulösen. Toll, wenn Martin im legendären Bahn-Triebwagen mit geschlossenen Augen und dem Rücken zur Tür rät, wo der Zug gerade vorbeifährt, und von seiner Freundin Luise jedesmal freudig gelobt wird: "Richtig gesehen!" Und so wie Martin ahnt, was man vom Zug aus sehen kann, ahnen eigentlich alle im Westerwald-Dorf irgendetwas (einschließlich dem Zuschauer) – und die "Oberahnerin" mit ihrem Okapi ist die wundervoll spielende Corinna Harfouch als Selma. Nicht nur der Optiker muss sie einfach lieben, wenn er sie von hier aus sieht oder auch von früher her. Die mehrfachen Zeitsprünge machen es ja möglich, dass es viele Blicke "von hier aus" gibt. Ist das Leben so wie dieses Dorf? Vielleicht, man könnte es von hier aus so sehen, muss es aber nicht. Man darf es aber! Jedenfalls für gut eineinhalb Stunden.

Nach der ambivalenten Diskussion hier bin ich gespannt auf Film und Buch. Wie bei guten Kunstwerken kommt es mir vor: es schaut heraus, was herein schaut….

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