Kritik zu Holy Meat
Der Film von Alison Kuhn ist vordergründig eine heftige satirische Umdeutung religiöser Rituale. Jenseits der Provokation aber geht es um die Frage, was die Gesellschaft heute zusammenhalten kann
Eine Theaterbühne: Darsteller:innen in historischen Gewändern posieren für das letzte Abendmahl, dazu ertönt feierliche Musik. Dann der Bruch: Die Musik wechselt zu wildem Techno, die Darsteller:innen reißen sich die Gewänder vom Leib und tanzen halbnackt in Lack-und-Leder-Outfits. Eine Frau mit Downsyndrom schwebt von der Decke herab und ruft die sieben Todsünden aus, ein Schwein fährt in einem ufoähnlichen Gefährt herein, ein als Bischof verkleideter Darsteller holt einen Plastikpenis hervor … Die als Prolog betitelte Sequenz endet mit einem Schwenk ins Publikum und dem Zoom auf das entsetzte Gesicht eines Pfarrers.
Für die anschließend einsetzende Handlung springt »Holy Meat« in der Zeit zurück. Der im Prolog gezeigte Pater Iversen (Jens Albinus) bittet aus zunächst nicht ersichtlichen Gründen darum, seine dänische Heimat verlassen zu können und ins schwäbische Dörfchen Winteringen versetzt zu werden. Die dortige Pfarrei steht allerdings kurz vor der Auflösung. Als Rettung will Iversen eine Aufführung der Passionsgeschichte organisieren, denn der zuständige Erzbischof ist großer Theaterfan. Für die Umsetzung wird der Berliner Theaterregisseur Roberto (Pit Bukowski) engagiert, der gerade aus der Berliner Offtheater-Szene gecancelt wurde und dringend Geld braucht, allerdings etwas überfordert damit ist, nun mit Laien zu arbeiten. Das ändert sich, als Mia (Homa Faghiri) zur Gruppe dazustößt. Mia hatte dem Dorf den Rücken gekehrt, ist aber nach dem überraschenden Tod ihrer Mutter zurückgekommen, da sie jetzt Vormund für ihre Schwester Merle mit Downsyndrom (Amelie Gerdes) ist. Vor Ort erfährt Mia, dass Pater Iversen ihre Mutter am Sterbebett dazu überredet hat, ihr Erbe der Pfarrei zu überlassen. Um das Vorhaben des Paters zu sabotieren, bringt Mia die Theatertruppe dazu, eine etwas andere Version der Passionsgeschichte auf die Bühne zu bringen.
Als Inspiration für die Theaterszenen dienten Regisseurin Alison Kuhn Inszenierungen wie Florentina Holzingers freizügige und blutige Opern-Performance »Sancta«, die zuletzt bewies, dass Theater noch das Potenzial für kontroverse Schlagzeilen hat. Auch »Holy Meat« zeigt, welch rauschhafte Szenen bei einer satirischen Umschreibung von religiösen Motiven und Ritualen entstehen können. Kuhn geht es jedoch um andere Dinge: Sie beschäftigt sich mit dem Leben in der Provinz, dem Zustand der katholischen Kirche und der Einsamkeit, unter der alle Protagonist:innen leiden.
Stilistisch changiert »Holy Meat« zwischen grotesker, dunkler Komödie und realistischem, melancholischem Drama. Kuhn hat den Film in eine strenge dramaturgische Struktur gepackt, es gibt Prolog und Epilog sowie drei Kapitel, die jeweils die Perspektive von Pater Iversen, Mia und Roberto behandeln. Das führt hier und da zu Redundanzen und bringt den Erzählrhythmus etwas ins Stocken. Jedoch gelingt es, unterschiedliche Blickwinkel zur Geltung zu bringen und mit Erwartungen zu brechen. Der Film wirft einen kritischen Blick auf die katholische Kirche und spricht auch Themen wie sexuellen Missbrauch an, zugleich zeigt er authentisch, wie Pater Iversen unter dem Bedeutungsverlust seiner Institution leidet. Die Dorfbewohner wiederum scheinen zunächst klassisch konservativ und die hitzige Mia und der bisexuelle Roberto eher fehl am Platz. Während der Proben erweisen sich jedoch alle als offen füreinander – und die experimentelle Probenarbeit löst deutlich mehr Spielfreude aus als die konventionelle.
»Holy Meat« zeigt außerdem, was Dorfgemeinschaften, Kulturbetrieb und Institutionen wie die Kirche (für die evangelische gilt dies genauso wie für die katholische) verbinden kann: der Wunsch nach Orten der Zusammenkunft und der Gemeinschaft. Entstehen beziehungsweise Bestand haben können diese Orte allerdings nur, wenn strukturelle Probleme offen angegangen werden.




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