Kritik zu The Case You – Ein Fall von vielen

© Mindjazz Pictures

Eindringlich rekonstruiert Alison Kuhn in ihrer Doku mit fünf jungen Schauspielerinnen systematische sexuelle Übergriffe während eines Castings – auf einer leeren Theaterbühne

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Als Michaela Coel für ihre Serie »I May Destroy You« den Bafta-Award erhielt, widmete sie ihn der Intimitätskoordinatorin Ita O'Brien. Die Branche jubelte, denn Coels Geste fügte der komplexen MeToo-Debatte doch eine weitere Facette hinzu: Sowohl am Set als auch schon bei der Rollenbesetzung kommt es zu (Macht-)Missbrauch, werden Schauspielerinnen unter Druck gesetzt, Grenzen überschritten, oftmals mit der Begründung der künstlerischen Freiheit oder dem Anspruch auf absolute Authentizität. Die Regisseurin Alison Kuhn widmet sich in ihrem dramaturgisch wie ästhetisch überzeugendem Dokumentarfilm »The Case You – Ein Fall von vielen« nun einem solchen Fall des systematischen sexuellen Übergriffs beim  Casting. 

Fünf junge Schauspielerinnen lässt sie dazu auf einer leeren, schwarzen Bühne auftreten. Sie alle haben 2015 neben vielen anderen Frauen an einem Casting teilgenommen. In intensiven Einstellungen berichten sie von ihren Erlebnissen, erinnern sich an Ohnmachtsgefühle, Scham, Verzweiflung und rekonstruieren den systematischen Missbrauch, der nicht nur von dem Regisseur verübt, sondern auch von weiblichen Beteiligten gefördert und gefordert, teils ausgeführt wurde. Stets im Namen der Kunst. Sie erzählen von den Aufforderungen, sich auszuziehen, wie sie an Brüsten und an der Scham berührt wurden, wie ihnen gesagt wurde, dass es schließlich um eine Missbrauchsrolle geht, einen extremen Charakter, der Grenzüberschreitungen impliziert. 

Kuhn lässt die Frauen, beim Casting teils noch minderjährig, für sich selbst sprechen und geht dabei tief in den Schmerz ihrer Protagonistinnen. Schwer beschädigt, mit Zweifeln an sich und ihrem Job, hat das Casting sie hinterlassen, und mit Wut auf sich selbst, sich voller Ohnmacht nicht zur Wehr gesetzt zu haben. Auch zuschauende Bewerberinnen schritten nicht ein, machten mit und ließen die Grenzüberschreitungen wie paralysiert über sich ergehen. Es ist die Dokumentation eines erschütternden Systems von Manipulation, in dem die Mächtigen die jungen Frauen für ihre Naivität und den unerschütterlichen Wunsch auf die Rolle noch belächeln.

Kuhn zeigt fassungslose Frauen, wie sie einem selbstgerechten Regisseur bei seinen Rechtfertigungen während einer Podiumsdiskussion zuschauen. Sie zeigt aber auch selbstbewusste, fast trotzige junge Schauspielerinnen, die sich nun (gerichtlich) zur Wehr setzen. »Das nächste Mal hau ich dir in die Fresse«, sagt eine von ihnen. Namen fallen in dem Film nicht. Doch eine kurze Recherche offenbart, dass es sich um den Schweizer Urs Odermatt handeln dürfte, jenem Regisseur, dessen Methoden gern als »berüchtigt« bezeichnet werden, ähnlich wie die des deutschen Regisseurs Dieter Wedel. Das Casting mag nicht repräsentativ für die ganze Branche sein, aber es zeigt einen Teil des Systems. Intimitätskoordinatoren und filmisch so grandios umgesetzte Dokumentationen wie »The Case You« sind Schritte, um dieses System aufzudecken und damit zu verändern.

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