Kritik zu Der Kuss des Grashüpfers
Eine surreale Odyssee als Auseinandersetzung mit Abschied und Verlust: Elmar Imanovs zweiter Spielfilm begleitet einen melancholischen Schriftsteller durch ein seltsam düsteres Köln voller Wunderlichkeiten
Man könnte die Handlung von »Der Kuss des Grashüpfers« nüchtern und etwas dröge so zusammenfassen: Der exzentrische Schriftsteller Bernard (Lenn Kudrjawizki), der gerade in ein schickes, doch ziemlich dunkles Penthouse gezogen ist, leidet an sich selbst und seiner chaotischen, vielleicht schon unrettbaren Beziehung zu Agata (Sophie Mousel). Als sein Vater eines Tages Opfer eines Überfalls wird und die ärztliche Untersuchung danach einen Hirntumor feststellt, der ihm nicht mehr viel Zeit lässt, gerät Bernards Leben vollends aus dem Gleichgewicht. Er muss sich mit seinem unterkühlten Verhältnis zum Vater und dem unweigerlichen Verlust auseinandersetzen . . .
Dass sein Film jedoch alles andere als eine dröge Psychokiste ist, beweist Elmar Imanov schon in den ersten Minuten, mit ungeheuer düsteren Bildern und unheimlichem Sounddesign. Wir befinden uns wohl mehr in der Innenwelt des Protagonisten als in jenem äußerst seltsamen Köln, das der Film da zeigt. Und die Befremdlichkeiten nehmen kein Ende: Bernard lebt mit einem Schaf zusammen, eine Wand seiner neuen Wohnung scheint aus einem brodelnden schwarzen Loch zu bestehen, an einem Tresen sitzt schon mal wie selbstverständlich ein menschengroßer Grashüpfer. Und was ist das für eine merkwürdige Maschine, an der Bernard immer wieder bastelt?
Es ist eine Welt fast ganz in Graublau, gedämpft und eng und beklemmend, doch voller Geheimnisse und mit schrägem Humor, die Elmar Imanov und sein überaus fähiges Team hier konstruiert haben. Die internationale Koproduktion – gedreht wurde mit deutschem, italienischem und luxemburgischem Geld, Drehort war aber neben Köln auch Georgien – besticht mit einer konsequent durchgestylten, visuell brillanten Ästhetik und einer surrealistischen beziehungsweise Traum-Logik voller Metaphern und Symbole. Zahlreiche Motive legen zwar eine psychoanalytische Deutung nahe, auch ist der Bezug zu Künstlern wie Kafka oder Cronenberg bisweilen arg deutlich, doch die schwebende, reizvolle Eigenart der Erzählung lässt nur seltene Momente etwas abgeschmackt wirken.
Das Thema der Entfremdung und des Abschieds vom Vater, der zugleich zum endgültigen, späten Abschied von der eigenen Kindheit wird, hält die Geschichte trotz aller bizarren Wendungen zusammen. Für die Suggestionskraft ist dabei sogar hilfreich, dass manches nur angeträumt und halb durchdacht wirkt und der Film keine niet- und nagelfeste Ausdeutung seiner Motive anbietet. Es bleibt immer ein Moment des Spiels, der Freiheit und des schwarzen Humors: in bester surrealistischer Tradition. Die Fülle interessanter Ideen, mit der diese Welt zum Leben erweckt wird – beispielsweise die ominösen Tierdokus, die sich Vater Carlos ständig im Fernsehen ansieht, die in eigenartigem Türkis leuchtenden Getränke auf Bernards Tisch oder die irritierenden Gesten der Zärtlichkeit, mit denen sogar Fremde gelegentlich die Kälte durchbrechen –, erzeugt eine dichte, faszinierende Textur.
Einzelne Szenen entfalten gerade durch ihre unerhörte Seltsamkeit Magie. Etwa als ein Nachbar Bernards (Felix Schnabel), der irgendwie auch ein junges Alter Ego des Vaters ist, sich plötzlich in einer frappierend eleganten Mischung aus Parcours und Tanz mit traumwandlerischer Sicherheit die Wände entlanghangelt und über Möbel klettert und gleitet, um am Ende mit der Schale Süßigkeiten, die er dabei ganz nebenbei geangelt hat, wieder auf dem Sofa zu sitzen. Und das ist nur einer von mehreren schlicht zauberhaften Momenten.
Die aber ebenso nötige Bodenhaftung verleiht dem Film das realistische Spiel der Hauptdarsteller. Lenn Kudrjawizki, wie Regisseur Imanov in der damaligen Sowjetunion geboren und bekannt durch Serien wie »Babylon Berlin« und »Vikings« sowie die »Kroatien Krimis« der ARD, verkörpert Bernard mit einer stimmigen Mischung aus Unnahbarkeit und Sensibilität, und Michael Hanemann, ebenfalls vor allem aus TV-Produktionen bekannt, macht als Vater dessen gutmütiges Desinteresse ziemlich eindrucksvoll spürbar. Die Luxemburgerin Sophie Mousel verleiht Agata eine Aura spannender Widersprüchlichkeit.
Laut eigener Aussage hat Elmar Imanov in »Der Kuss des Grashüpfers« den Verlust seines Vaters verarbeitet. Dieser persönliche Aspekt ist seinem Film durchaus anzumerken. Umso bemerkenswerter ist jedoch die künstlerische Vision, mit der er aus dem Individuellen heraustritt und ein Werk reinsten Kinos schafft, mit eigener Ästhetik und eigenständigen Bildern, abgründig und vieldeutig sogar noch in der rauschhaft abhebenden Schlussszene. Ein faszinierender Solitär in diesem deutschen Kinojahr.
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