Das Jetzt und das Danach

»Die rote Schildkröte« (2016). © Universum Film

Ein Film muss nicht bleiben, wie er ist. Sein Anfang darf manchmal einfach nur Auftakt und muss nicht gleich Verpflichtung sein. Er kann zwischendurch den Kurs wechseln, den Tonfall ändern, eine vorgestellte Figur aus den Augen verlieren oder sich gar von ihr verabschieden. Gut, verirren sollte er sich besser nicht. Aber warum muss er sich an ein Stilprinzip gebunden fühlen?

Pascale Ferran ist eine Filmemacherin, die sich solche Freiheiten nimmt. Das kann sie, weil sie mehr vom Erzählen versteht als die meisten ihrer Kollegen. Sie weiß, dass die Gesetze des Kinos Auslegungssache sind. Eine Anarchistin ist sie nicht. Wenn sie erzählerische Gewissheiten aufkündigt, dann als Appell an die Neugierde der Zuschauer und als Bitte, ihr erst einmal zu vertrauen. Ihre bislang letzte Regiearbeit »Bird People« ist so ein Film, der sich zwischendrin verwandelt. Über weite Strecken scheint er den Geboten des psychologischen Realismus' zu folgen, um sich dann zu magischen Höhenflügen aufzuschwingen.

Eingangs weiß man noch ganz und gar nicht, in welche Richtung es gehen soll. Die Kamera interessiert sich für eine Vielzahl von Reisenden in einen Vorortzug, der von der Gare du Nord zum Flughafen Charles de Gaulle führt. Der Film horcht in einige von ihnen hinein, ihre Gedanken sind so laut vernehmbar wie die Gespräche zwischen den Passagieren oder die Worte, die in Smartphones gesprochen werden. Eine Kaskade von Geschichten scheint möglich, und wenn der Film sich für die von Audrey (Anais Demoustier) entscheidet, dann tut er es zwar unwiderruflich, aber nicht exklusiv. Mit der Zugfahrt ist die Idee der Kamera als Zaungast verschiedener Leben etabliert, was gut zu Audreys Job als Zimmermädchen in einem Flughafenhotel passt. Andere Figuren treten auf den Plan. Für eine ganze Weile wird uns die Entscheidung von Gary (Josh Charles) beschäftigen, einem Geschäftsmann aus dem Silicon Valley, brüsk aus seinem bisherigen Leben auszusteigen. Auch der Nachtportier Simon (Roschdy Zem) und dessen mulmig unbehaustes Privatleben wecken unser Interesse. Dann findet eine Metamorphose statt, welche die Kamera aus den Angeln hebt und die es der Regisseurin erlaubt, sich ihren großen Wunsch zu erfüllen, einen ganz anderen, ursprünglichen, ja naiven Blick zurückzugewinnen. Pascale Ferran erzählt von Dingen, die dem Kino geläufig sind, aber sie filmt sie so, als geschähen sie zum ersten Mal.

Heute Abend stellt sie den Film im Berliner Arsenal vor, das ihr bis zum 12. November eine Werkschau widmet. Auch damit wird eine klaffende Lücke gefüllt, denn von Ferrans vier Regiearbeiten lief bislang nur »Lady Chatterley« (den sie am Samstag präsentiert) in unseren Kinos (www.arsenal-berlin.de). »Bird People« ist ein kluger, programmatischer Auftakt, denn er zieht wie nebenbei fast eine Summe ihres bisherigen Werkes. Es ist ein ungemein wachsamer Film, der aufmerksam ist für das, was uns im Alltag sonst nicht auffällt. So genau wie Julien Hirschs Kamera nimmt niemand, der auf dem Weg zum Flugzeug ist, die Wege, Gepäckstücke, Laufbänder, Uhren und nicht zuletzt die Werbebotschaften wahr, die allerorten Beachtung erheischen. Ich kenne keine andere Filmemacherin, die dem Akt des Schauens eine solch faszinierende Dynamik verleihen. »Lady Chatterley« führt vor Augen, wie überlegt sich Begehren durch den Blick der Kamera herstellen lässt. »Bird People« demonstriert, dass es niemanden so wie Ferran gelingt, Schuss-Gegenschussfolgen zu einer innigen Zwiesprache zwischen Betrachter und Objekt zu montieren.

Ihre Karriere ist bisher rätselhaft verlaufen. Fast möchte man sie mit einem Kometen vergleichen, der in langen Abständen wieder auftaucht. Die Metapher stimmt nicht, denn dessen Laufbahn lässt sich vorherbestimmen. Aber Ferran taucht mit einem neuen Film auf, wenn man schon gar nicht mehr mit ihr gerechnet hat. Als »Lady Chatterley« 2007 herauskam, waren über zehn Jahren seit ihren ersten beiden Filmen vergangen, seit »Petits Arrangements avec les morts« und »L‘Age des possibles« (die unter den Titeln »Die Sandburg« und »Zeit der Entscheidungen« bei uns nur auf arte zu sehen waren). Nach dem Kassenerfolg und César-Triumph der D.H.Lawrence- Verfilmung war sie eigentlich "durchgesetzt". Es dauerte dann aber doch sieben Jahre, bis »Bird People« fertig wurde. Es ranken sich Geheimnisse um das, was sie jeweils in der Zwischenzeit machte. Fest steht, dass Stanley Kubrick sie mit der französischen Synchronfassung von »Eyes Wide Shut« betreute.

Das Arsenal hat gut daran getan, auch ihre Arbeiten als Drehbuchautorin vorzustellen, darunter den erstaunlichen »La Sentinelle« ihres Studienkollegen Arnaud Desplechin und den zauberischen Animationsfilm »Die rote Schildkröte«, eine Co-Produktion mit den Ghibli Studios, in deren Zentrum ebenfalls eine Verwandlung steht. Der Kreislauf von Leben, Sterben und Werden wird in dieser Robinsonade strukturiert durch ein Prinzip der Wiederholung von Entdeckungen und Erfahrungen. In der Tat ist es ertragreich, diese Regisseurin erst einmal als Szenaristin zu betrachten. Ihre ersten Filme sind mosaikhaft konstruiert und schildern, wie sich die Wege verzweigter Darstellerensembles kreuzen. »Petits Arrangements« erzählt in drei Episoden von Verlust und Trauerarbeit, »L'Age des possibles« von den Liebeswirren und Zukunftsängsten, die man mit Anfang Zwanzig durchlebt. Sie verraten schon den Impuls, eine Vielzahl unterschiedlicher Geschichten nacheinander, parallel oder linear (was am schwersten ist) zu erzählen. Einige Passagen aus »Bird People«, etwa die Zugsequenz, die Trennung per Skype oder der Vogelflug, könnten durchaus als eigenständige Kurzfilme funktionieren.

Am meisten bewundere ich jedoch, wie brillant Ferran ihre Schlussszenen konstruiert. In »Petits Arrangements avec les morts« bauen die Geschwister Tag für Tag an einer Sandburg, einem Symbol für ihr Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit. In der letzten Szene lassen sie sie hinter sich, überantworten sie Wind und Wetter und vollziehen damit eine Ablösung von ihrer Vergangenheit. In »L'Age des possibles« verabreden sich zwei der zahlreichen Liebessuchenden in einem Café. Ob aus ihnen ein Paar wird, ist erst einmal nicht wirklich wichtig. Sie diskutieren lebhaft, er hält ein Plädoyer für die Überwindung der Angst und sie spürt in sich einen neuen Elan, das Leben in Angriff zu nehmen. Dann geht einer von ihnen auf die Toilette, die Kamera bleibt bei dem anderen und der Film schleicht sich sachte und erwartungsvoll aus der Szene.

Ferrans Filmenden haben noch ganz teil an der Geschichte und stoßen schon die Tür auf für das Danach. Am schönsten gelingt ihr das in »Lady Chatterley«. Der Schluss bedeutet Abschied und Vermächtnis zugleich. Die Titelheldin und der Wildhüter beschwören das Warten als Utopie ihrer Liebe. Sie ahnen deren Vergeblichkeit, spüren, wie unvereinbar ihre Vorstellungen von Selbstbestimmung sein könnten. Und wissen dabei, dass sie einander längst schon genug gegeben haben: Ferrans Filme handeln davon, wie man Kommunikation erprobt, wie Worte und Gefühle zueinander finden. Auch »Bird People« hat ein schönes Ende. Es ist dem Transitort, an dem er überwiegend spielt, angemessen. Zwei Figuren, von denen wir erwarteten, dass sie sich viel früher begegnen, lernen sich kennen. Das ist ein Glück, das keine Folgen haben muss, aber vielleicht doch könnte. Als wir es sehen, ist der Film fast schon im Danach angekommen.

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