Wann hört der Schmerz auf?

Die Terroranschläge von Paris 2015
»Meinen Hass bekommt ihr nicht« (2022). © TOBIS Film GmbH

»Meinen Hass bekommt ihr nicht« (2022). © TOBIS Film GmbH

Am 13. November 2015 starben bei einer islamistischen Attentatsserie in Paris 130 Menschen, fast 700 wurden verletzt. Inzwischen ist es möglich, das Geschehen im Kino zu reflektieren. Thomas Abeltshauser über das Trauma des »Bataclan«-Massakers in aktuellen Filmen

Nach langem Zögern wagt sich Mia (Virginie Efira) in die Selbsthilfegruppe. Die trifft sich regelmäßig in der Brasserie, wo Monate zuvor Terroristen einen tödlichen Anschlag verübten, bei dem Dutzende ums Leben kamen. Seitdem kommen Überlebende und Angehörige, um hier, am Tatort, über die Tragödie zu sprechen, einander zuzuhören und zu stützen. Auch Mia war an diesem Abend in dem Lokal, rein zufällig, weil es zu regnen begann und sie für eine Weile Unterschlupf suchte. Gerade als sie wieder aufbrechen wollte, um auf ihrem Motorrad nach Hause zu fahren, hörte sie erst Schüsse aus dem Nebenraum, dann Geschrei. Panik brach aus, sie kroch auf dem Boden, um sie herum Gewehrsalven, Explosionen, Splitter, Leichen. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Und war lange danach wie erstarrt, erinnerte sich nur an Bruchstücke, ließ nichts an sich heran. Vor allem die Narbe knapp unter dem Brustkorb will sie loswerden, die seelischen Narben verdrängte sie. Bis sie sich zurück an den Ort des Geschehens wagte und dort durch den Barkeeper von den Treffen hörte. Nun ist sie hier, hört zu und beginnt schließlich selbst, zögerlich zu erzählen.

Es kostet diese junge Frau in Alice Winocours Drama »Revoir Paris« sichtlich Überwindung, sich der traumatischen Erlebnisse zu erinnern, ihren Schmerz und ihre Ohnmacht auszudrücken. »Revoir Paris« ist einer von mehreren Spielfilmen, die sich derzeit mehr oder weniger dezidiert mit den Anschlägen von Paris 2015 und ihren Folgen auseinandersetzen. Wie gehen wir als Gesellschaft mit einem solchen Trauma um, abseits der Nachrichtenbilder und politischen Analysen und Kommentare? Bemerkenswert ist, dass die Attentatsserie vom 13. November 2015, bei der an fünf Orten im Großraum Paris 130 Menschen ums Leben kamen und fast 700 zum Teil schwer verletzt wurden, nicht als rein französisches Trauma wahrgenommen wird. Von vier Spielfilmen, die in diesem Jahr auf Festivals in Berlin, Cannes und Locarno uraufgeführt wurden und von denen ein Großteil in diesen Wochen auch in die hiesigen Kinos kommt (nur »Revoir Paris« hat bislang keinen Starttermin), wurde einer von einem spanischen Regisseur inszeniert, ein anderer von einem deutschen. Wie 9/11 vor 21 Jahren erschüttert ein Anschlag wie dieser und wirft Fragen und Ängste auf, die über das Leid der direkt Betroffenen hinausgehen, uns alle herausfordern.

Winocour, deren Bruder die Anschläge im Zentrum des Schreckens, dem populären Theater- und Konzertsaal »Bataclan«, überlebte, verlegt ihre präzise konstruierte psychologische Studie einer Traumabewältigung bewusst in ein fiktives Restaurant. Bilder des Anschlags zeigt sie nur kurz und aus der eingeschränkten Perspektive Mias. Später geht Mia zu einem Treffen der Überlebenden, sieht, wie sie sich gegenseitig helfen, sich zu erinnern, um mit dem Erlebten umzugehen. Ihr erster Impuls ist, gleich wieder zu fliehen, die Gedanken und Gefühle nicht an sich heranzulassen. Als sie dem Mann wiederbegegnet, der im Lokal mit Freunden seinen Geburtstag gefeiert hatte und seit dem Attentat an Krücken geht, erinnert er kleinste Gesten von ihr – sie erkennt nicht einmal sein Gesicht. Eine Frau aus der Gruppe fragt sie unvermittelt, was sie hier zu suchen habe. Sie sei überhaupt nicht hier gewesen, wirft sie Mia vor, sondern habe sich in der Damentoilette verbarrikadiert und alle anderen ausgeschlossen, die ebenfalls vor den Terroristen Schutz gesucht hätten. Wie sie es wagen könne, herzukommen und ihr Gesicht zu zeigen, fragt die Überlebende unter Tränen. »Schämen Sie sich. Was Sie taten, ist verachtenswert.« Diese Anklage, dieses Handeln, an das sich Mia nicht erinnern kann oder will, lässt plötzlich Zweifel aufkommen an der Protagonistin, mit der sich das Publikum eben noch selbstverständlich identifiziert hat. Ist Mia nicht nur ein traumatisiertes Opfer – hat sie egoistisch gehandelt, das Leben anderer aufs Spiel gesetzt, um ihre eigene Haut zu retten? Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Und wie geht man mit einer solchen Schuld um? 

Auch die Protagonistin in »Frieden, Liebe und Death Metal« (Un año, una noche, Start 15.12.) verweigert sich der Erinnerung. Céline (Noémie Merlant) war mit ihrem Freund Ramón (Nahuel Pérez Biscayart) im »Bataclan« – sie will das Leid hinter sich lassen, vergessen und weiterleben. Auf der Arbeit verschweigt sie es, nicht einmal ihrer guten Freundin erzählt sie von den qualvollen Stunden, in denen sie im Club um ihr Leben bangte. Und sie kann nicht verstehen, warum ihr Freund genau das Gegenteil will. Ramón hat Alpträume, ihn wirft das Erlebte völlig aus der Bahn. Er kündigt seinen Job, ist besessen davon, jedes kleinste Detail zu rekonstruieren, sich an alles zu erinnern. Ein Jahr lang begleitet der Film das Paar in diesem sehr gegensätzlichen Prozess, der ihre Beziehung zunehmend gefährdet.

Antoine Leiris (Pierre Deladonchamps), der junge Mann in »Meinen Hass bekommt ihr nicht« (Start 10.11.), war selbst nicht im »Bataclan«. Aber Hélène (Camélia Jordana), seine Frau und Mutter ihres erst 17 Monate alten Kindes, ist tot. Und Antoine hat es den Boden unter den Füßen weggezogen. Doch der junge Journalist will nicht in dieselbe Kerbe schlagen wie so viele Politiker und Medien in Frankreich. Er schreibt abends auf Facebook einen langen Kommentar, in dem er postuliert: »Meinen Hass bekommt ihr nicht« – und an die Menschlichkeit appelliert. Der Beitrag trifft einen Nerv, in kürzester Zeit wird er in den sozialen Medien tausendfach geteilt. Schließlich meldet sich die Tageszeitung »Le Monde«, die ihn auf der Titelseite nachdrucken möchte. Über Nacht wird Antoine zum Hoffnung spendenden Fürsprecher eines gemäßigten Umgangs in dieser Ausnahmesituation, zugleich muss er mit seinem eigenen Schmerz und der unendlichen Trauer umgehen und sich um seinen Sohn kümmern. Bedacht und mit leiser Sensibilität adaptiert der deutsche Filmemacher Kilian Riedhof (»Gladbeck«, »Der Fall Barschel«) die Memoiren des Autors und Journalisten Leiris, seziert präzise kleinste Schwingungen, ohne sentimental oder pathetisch zu werden.

Während »Revoir Paris« und »Meinen Hass bekommt ihr nicht« klassisch die Phasen der Bewältigung darstellen, geht Isaki Lacuesta in »Frieden, Liebe und Death Metal« einen Schritt weiter. Auch bei ihm geht es um das Puzzle echter und falscher Gedächtnisspuren, die er jedoch nicht nur auf narrativer Ebene verhandelt, in den oft gegensätzlichen Erinnerungen seiner beiden Protagonisten etwa, sondern indem er den Film selbst zu einem immersiven Erlebnis macht, ihn so inszeniert, dass das Publikum immer wieder mit Eindrücken konfrontiert wird, die nicht einfach einzuordnen sind. Das Syndrom überträgt sich auf die Bilder selbst. Was ist wirklich geschehen, was ist eingebildet oder schlicht erfunden? Lacuesta löst diese Ambivalenz nicht auf, sondern führt vor Augen, wie das Gedächtnis die Vergangenheit organisiert, Gegenwart konditioniert und Zukunft definiert. Sein Film wird damit zur Reflexion über das Erzählen an sich, in dem wir uns immer wieder selbst zu vergewissern versuchen.

Der bereits gestartete Polizeithriller »November« von Cédric ­Jimenez ist gleich in mehrerer Hinsicht eine Ausnahme in dieser Reihe. Er schildert aus der Perspektive der Staatsgewalt die Arbeit der Antiterror-Eliteeinheit SDAT um Fred (Jean Dujardin) und ihre fieberhafte Suche nach den Tätern. Hier stehen klar Genrekonventionen im Vordergrund; der Film ist ein Rachedrama mit entsprechenden dramatischen Zuspitzungen, mehr oder minder spektakulär inszenierten Actionszenen und Simplifizierungen. »November« steht moralisch klar aufseiten der Polizeigewalt, die in ihrem Kampf ­gegen den Terror Kollateralschäden in Kauf nimmt. Die Opfer des Anschlags kommen nur kurz zu Wort, wenn Zeugenaussagen benötigt werden. »Der Film beruht auf Tatsachen, bleibt aber fiktiv«, heißt es vorab, auch wenn dann die TV-Aufnahmen der Ansprache von Präsident François Hollande immer wieder den Anschein des Dokumentarischen vermitteln. Am Ende einer fünf Tage dauernden Jagd auf Terroristen ist eine Wand mit Fotos und Steckbriefen von Verdächtigen zu sehen. »Für unsere Mitbürger sind die Ermittlungen abgeschlossen. Für uns fangen sie gerade erst an.« Die Überlebenden und die Toten des Anschlags sind da nur noch Zahlen im Abspann.

Vier Filme, die allesamt 2022, sieben Jahre nach den Anschlägen von Paris, ins Kino kommen und doch auf höchst unterschiedliche Weise und mit andersgearteten Perspektiven und Gewichtungen die Folgen des Attentats verhandeln. Offenbar gibt es nun den ­zeitlichen Abstand, der notwendig ist, sich mit den individuellen und kollektiven Traumata auseinanderzusetzen. Alle vier fokussieren sich auf das Danach, Bilder des Anschlags setzen sie, wenn überhaupt, nur sehr zurückgenommen ein. Es geht nicht um das voyeuristische Nachstellen des Grauens, sondern um die Wunden, die es hinterlassen hat, die individuellen und die kollektiven. Oder die einer ganzen Nation, dem Vergeltungstrieb in »November« nach zu urteilen.

Die Filme sprechen Themen und Fragen an, die im Fokus der Traumaforschung stehen, etwa wie falsche Erinnerungen entstehen und ob traumatische Ereignisse komplett verdrängt werden können. Das Nicht-Erinnern scheint dabei zumindest nicht die typische Folge zu sein, viel wahrscheinlicher werden Menschen von schrecklichen Erinnerungen überflutet. Das zeigen auch Studien im direkten Zusammenhang mit den »Bataclan«-Anschlägen. Fast die Hälfte der Überlebenden litt an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, bei vielen drängten sich die Erinnerungen immer wieder so intensiv ins Gedächtnis zurück, dass sie meinten, es erneut zu durchleben. Wobei sich Betroffene vor allem Details einer traumatischen Situation häufig falsch merken. Und oft gibt es einen Auslöser, etwa die Begegnung mit einer Person, die an dem Trauma beteiligt war, um etwas scheinbar Vergessenes wieder zu erinnern. Doch auch in der Psychologie und der Neurowissenschaft ist noch vieles auf diesem Feld unerforscht. Und fiktionale Szenen in Spielfilmen können bei aller Präzision letztlich nur Annäherungen und Mutmaßungen bleiben.

Trauma-Experten weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig es für die Überlebenden ist, über das Geschehene zu sprechen, in verbaler Arbeit nach Wörtern und neuen Bildern zu suchen und das Gedächtnis neu zu formen. Sich zu artikulieren, ermöglicht dem Gehirn, Emotionen zu regulieren. Doch entscheidend ist die öffentliche Reaktion. Resilienz ist nur möglich, wenn die Gesellschaft auf diese Geschichten nicht gleichgültig oder gar abwehrend reagiert. In diesem Sinne kann das Kino hier selbst als eine Erinnerungsmaschine gesehen werden, die den Schicksalen hinter den Nachrichtenbildern ein Gesicht gibt und dem Publikum im Idealfall vermitteln kann, sich durch das Erleben von Situationen mit dem individuellen Leid von Figuren auseinanderzusetzen und so, auch ohne selbst direkt betroffen zu sein, ein Gespür für das Traumatisierende dieser Erfahrungen zu bekommen: eine Übung in Empathie. 

»Mein Leben mit Amanda« (2018). © MFA+ Filmdistribution

Die ersten filmischen Auseinandersetzungen zum Thema sind diese aktuellen Filme nicht. Bereits 2017, also nach zwei Jahren, lieferte Alexandre Vallès mit Boulevard Voltaire einen ersten Kinofilm über die Attentate. Wie eine leichte Sommerkomödie beginnt Mikhaël Hers' 2018 entstandener Film »Mein Leben mit Amanda«, in dem das 12. Arrondissement wie ein urbanes Idyll erscheint. Bis nach einer halben Stunde eine der Hauptfiguren, Sandrine (Ophélia Kolb), bei einem Anschlag plötzlich ums Leben kommt. Sandrines leicht unsteter jüngerer Bruder David (Vincent Lacoste) muss sich nun um ihre siebenjährige Tochter Amanda kümmern, und der Film schlägt um in ein feinnerviges Melodram über Verlust, Trauer und wehmütigen Neubeginn. 

Auch Fernsehen und Streamingdienste haben sich den Anschlägen gewidmet. Auf Netflix ist mit »13. November – Angriff auf Paris« ein Doku-Dreiteiler aus dem Jahr 2018 verfügbar, dort findet sich außerdem in der Anthologiereihe »Criminal: Frankreich« von 2019 eine Episode über den Anschlag im »Bataclan«. Die Produktion des französischen Fernsehfilms »Ce soir-là et les jours d'après« (etwa: Dieser Abend und die Tage danach) von Marion Laine knapp zwei Jahre nach der Tragödie sorgte dagegen trotz fiktiver Handlung für Proteste. Mehr als eine halbe Million Menschen unterschrieben eine Petition gegen den Film. Erst 2019 und nach positiven Reaktionen Überlebender war er schließlich auf dem Sender France 2 zu sehen. 

Für das bislang vielleicht größte Echo sorgte dann Anfang letzten Jahres die arte-Serie »In Therapie«. Hier setzt das erfolgreiche Regieduo Olivier Nakache und Éric Toledano gleich eine ganze Gesellschaft auf die Psychiatercouch. Die Serie beginnt nur wenige Tage nach den Terroranschlägen, und auch wenn nicht jede der Figuren unmittelbar betroffen ist, schwingen doch in jeder Erzählung die Erschütterungen mit. Am direktesten wird dies in dem Handlungsstrang mit einem Polizisten thematisiert, der durch den Sondereinsatz stark traumatisiert ist, dies aber lange nicht wahrhaben will.

Die einzigen kulturellen Produktionen zum Geschehen sind das keineswegs. Noch früher als Kino und Fernsehen zeigte sich der Buchmarkt als Forum und Seismograph, es erschienen zahlreiche Erlebnisberichte und Memoiren Überlebender, auf denen auch zwei der nun entstandenen Filme beruhen. In die literarische Aufarbeitung der Anschläge ist nun auch Erfolgsautor Emmanuel Carrère mit dem im September in Frankreich erschienenen Romanbericht »V13« eingestiegen, der den Prozess thematisiert und in Frankreich als Chance gewertet wird, zu einer gesellschaftlichen Versöhnung beizutragen. 

Für niemanden, auch das machen Lacuesta, Riedhof und ­Winocour in ihren Filmen klar, ist das Leben wie vor dem 13. November. Der Anschlag hat die Überlebenden und Angehörigen geprägt, die Erinnerung werden sie nicht mehr los, abschließen lässt sich damit nicht. Aber sie können sie im besten Falle als Teil von sich annehmen. Auch wenn es bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die ihr Umfeld womöglich nicht versteht. Wie Ramón in »Frieden, Liebe und Death Metal«, wie Antoine in »Meinen Hass bekommt ihr nicht«. Lacuestas Film endet mit einer Party, bei der auch einige der realen Menschen tanzen, die das Attentat überlebt haben. Und in einem der letzten Momente von »Revoir Paris« kommt es zu einer erneuten Begegnung mit jener Frau, die Mia vor den anderen Opfern beschuldigt hatte, sich in der Toilette eingeschlossen zu haben. Sie habe sich geirrt, sagt die Frau, deren Ehemann unter den Toten war. Ihr sei nun klar, dass nicht Mia sich verbarrikadiert hatte. Das sei sie selbst gewesen, gesteht sie unter Tränen. Mia nimmt sie schweigend in den Arm.

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