Mediathek: »In Therapie«

»In Therapie« (Staffel 1, 2020). © Carole Bethuel, Les Films du Poisson

»In Therapie« (Staffel 1, 2020). © Carole Bethuel, Les Films du Poisson

Nach dem Anschlag

Manche Serienkonzepte sind so einleuchtend und universell, dass sie schnell in anderen Ländern adaptiert werden. So gibt es weltweit zahlreiche mehr oder weniger offizielle Versionen von »The Office« oder »Ugly Betty«. Besonders beliebt sind in den letzten Jahren Remakes israelischer Formate, von der Spionageserie »Homeland« nach dem Original »Hatufim«, dem Teenagerdrama »Euphoria« bis zur Dramedyreihe »Milk & Honey«, die einen Escortservice junger Männer vom Nahen Osten in die brandenburgische Provinz verlegte. Kaum eine Serie wurde dabei öfter in andere Kulturen übertragen wie »BeTipul« über einen Psychotherapeuten und seine wöchentlichen Sitzungen.

Nach Versionen in den Vereinigten Staaten (»In Treatment« mit Gabriel Byrne), den Niederlanden, Brasilien, Serbien, Argentinien, Italien und etlichen weiteren Ländern kommt nun rund eine Dekade nach dem Hype eine Variante aus Frankreich. Das ist schon allein deshalb erwähnenswert, weil es das erste Serienprojekt des wohl erfolgreichsten Regieduos des französischen Kinos ist: Olivier Nakache und Éric Toledano, die allein mit »Ziemlich beste Freunde« in Frankreich über 19 Millionen Zuschauer in die Kinos lockten und weitere neun Millionen in Deutschland. Auch der Film war übrigens ein Role-Model für fremdsprachige Varianten in halb Europa, den USA und Indien. 

Dem strengen Therapiekonzept blieben Nakache/Toledano treu: Die Serie wird auf Arte ab 4. Februar fünf Mal pro Woche werktags ausgestrahlt, derselbe Therapeut empfängt in jeder Folge je einen Klienten zur Sitzung, so dass sich auch für den Zuschauer eine gewisse Routine entwickelt: montags die junge Chirurgin Ariane (Mélanie Thierry), dienstags der Elitepolizist Adel (Reda Kateb), mittwochs die 16-jährige Leistungsschwimmerin Camille (Céleste Brunnquell), donnerstags das Ehepaar Léonora und Damien (Clémence Poésy und Pio Marmaï). Am fünften Tag begibt sich Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) selbst in Therapie bei seiner Kollegin Edith (Carole Bouquet). 

Der Clou bei dieser in Paris angesiedelten Variante ist der reale historische Hintergrund, in dem die Erzählung angesiedelt ist: Sie beginnt nur wenige Tage nach dem islamistischen Terroranschlag auf den Konzertclub Bataclan im November 2015, bei dem 130 Menschen ermordet wurden. Und auch wenn nicht jede der Figuren unmittelbar von dem Attentat betroffen ist, spiegeln Nakache und Toledano doch in jeder Erzählung die Erschütterungen der französischen Gesellschaft wider. Am direktesten wird dies in dem Handlungsstrang mit dem von Reda Kateb verkörperten Polizisten thematisiert, der durch den Sondereinsatz im Bataclan stark traumatisiert ist, dies aber lange nicht wahrhaben will.

Als nicht unrelevant erweist sich auch die jüdische Tradition, in der die Serie steht. Die Figur des Therapeuten Dayan ist Nachfahre sephardischer Juden aus Marokko und auch die beiden Macher Nakache und Toledano selbst sind jüdisch und reflektieren mit ihrer »BeTipul«-Version die nicht erst seit den Terroranschlägen bedrohlicher gewordene Situation in Frankreich. Daneben geht es, immer wieder sehr nah an der Vorlage, um klassische Therapiethemen wie Traumata und Ängste, Verdrängung und Übertragung. Dieses psychotherapeutische Erzählexperiment ist in seinem strengen Minimalismus perfektes Fernsehen, die in langen Einstellungen und chronologisch gedrehten Gespräche finden fast ausschließlich in Dayans Praxiszimmer statt, die hervorragend geschriebenen und subtil gespielten Dialoge sind dicht, ohne aufgesetzt zu wirken, selbst in der deutschen Synchronisation. Vieles spielt sich, wie in einer realen Therapie, im Kopf ab. Dank der Mediathek ist man dabei nicht auf die festen Termine angewiesen. So lässt sich die Serie wie schon beim Original und dem erfolgreichen US-Remake sowohl Folge für Folge schauen oder Patient für Patient. Ein Genuss und Erkenntnisgewinn, jenseits von Klischees.

OV-Trailer

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