Kritik zu Mein Leben mit Amanda

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Mikhaël Hers' Film hebt an wie eine leichte Sommerkomödie und wandelt sich dann stilsicher in ein feinsinniges Melodram. Er ist ein sensibler Treuhänder des Traumas der Anschläge, die Paris im November 2015 erschütterten

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Das Triviale hat ein stolzes Bleiberecht in diesem Film. Mit dem Rad durch die Stadt zu fahren, in den Parks zu spazieren, auf einer Bank ein Bier zu trinken oder den Tourischiffen auf der Seine nachzublicken: das sind ihm kostbare Ereignisse. An diesem Recht hält er auch fest, als es plötzlich keinen Alltag mehr geben kann.

Beschwingt und sommerlich gibt sich Mikhaël Hers' »Mein Leben mit Amanda« in seiner ersten halben Stunde, sammelt Impressionen des Alltags im 12. Arrondissement von Paris, das noch den »kleinen Leuten« zu gehören scheint. Er beschwört eine Idylle, die weder Folklore noch Utopie ist. Nicht, dass das Leben von David (Vincent Lacoste) und seiner Schwester Sandrine (Ophélia Kolb) sorglos wäre. Als Englischlehrerin muss sie ihre siebenjährige Tochter Amanda (Isaure Multrier) allein aufziehen. Der jüngere Bruder ist ihr dabei nicht immer eine zuverlässige Stütze, kommt schon mal zu spät, wenn er Amanda von der Schule abholen soll. Er ist längst noch nicht im Erwachsenenleben angekommen, macht eine Ausbildung beim Gartenamt der Stadt und verdient nebenher Geld als Faktotum eines Immobilienbesitzers. Aber seit ihre Mutter die Geschwister in Kindertagen verließ, sind sie unzertrennlich.

Dann geschieht eines Abends das Unvorstellbare. Als David verspätet zu einem Picknick mit Freunden in den Bois de Vincennes kommt, findet er ein Schlachtfeld vor: Terroristen haben ein Massaker angerichtet, bei dem Sandrine getötet wurde. Auch Davids neue Nachbarin Léna (Stacy Martin), in die er sich verliebt hat, schwebt in Lebensgefahr.

Es kam aus heiterem Himmel. Bis der Film an seinen entsetzlichen Umschlagpunkt gelangt, hat sich die Montage der betont undramatischen Momente zu einer Hymne auf urbane Selbstverständlichkeit verdichtet; beiläufig, aber stets in Komplizenschaft mit dem Publikum. Nun wird er eine Elegie der Verwundbarkeit. In Frankreich kam »Amanda« drei Jahre nach den Anschlägen des 13. November 2015 heraus. Eine behutsamere Aufarbeitung dieses Traumas als Hers' Film, in dem das Intime und der öffentliche Raum stets auf Sichtweite bleiben, kann man sich kaum vorstellen.

In immer noch lichten, sommerlichen Bildern begleitet er David und Amanda in ihrer Trauer. Auch ihr verleiht er die Würde des Alltäglichen. Von Heilung will er noch gar nicht sprechen, vorerst hofft er, dass die Tränen und die Worte irgendwann einmal zusammenfinden. Mit berückender Geduld bezieht er auch Lénas Art des Trauerns in seinen erzählerischen Radius mit ein.

Vorsichtig wirft dieser Film, der die große Frage nach Hinterlassenschaft und Erbe allein schon anhand einer Zahnbürste zu verhandeln weiß, Anker in die Zukunft. David muss entscheiden, ob er der Vormund seiner Nichte werden will. Lacoste, der nach wie vor die schlaksige Aura eines Teenagers besitzt, in dessen Augen nun aber eine suchende Reife aufblitzt, wächst wunderbar hinein in diese unverhoffte Vaterschaft. In jedem Moment ist das lebhafte, wehmütige Einverständnis zu spüren, das sich zwischen ihm und der kleinen Isaure Multrier entwickelt: David und Amanda werden voneinander lernen.

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