Stanley Tucci: Mann mit vielen Gesichtern

Stanley Tucci am Set von »Final Portrait« (2017). © Prokino/Parisa Taghizadeh

Stanley Tucci am Set von »Final Portrait« (2017). © Prokino/Parisa Taghizadeh

Stanley Tucci gilt als König der ­Nebenrollen. Er hat Schurken ­verkörpert und den ­Puck im ­»Sommernachtstraum«. Sein neuester Film heißt »Kindeswohl«. Birgit Roschy porträtiert den Schauspieler und Regisseur

»Was machst du am liebsten auf der ganzen Welt?« fragt Paul Child in »Julie & Julia« (2009) seine frisch Angetraute, und sie antwortet gackernd »Essen!«. Worauf der Gatte bewundernd sagt: »Und darin bist du soo gut!« Ein verständnisvollerer Ehemann als Paul lässt sich kaum finden, abgesehen vielleicht von Jack im Drama »Kindeswohl«. Beide werden von Stanley Tucci gespielt, der auf den ersten Blick mit stechenden Augen und Bartschatten in die Filmschublade »Mafioso« gehört. Und so klassisch hat die Schauspielerlaufbahn von Stanley Tucci, dessen Familie sizilianische Wurzeln hat, 1985 auch ihren Anfang genommen: mit einem Auftritt in John Hustons Mafiakomödie »Die Ehre der Prizzis«. Dennoch ist Tuccis Wandel von Schurkenrollen hin zum Ehemann, der in »Kindeswohl« seine von Emma Thompson gespielte Frau höflich fragt, ob er eine außereheliche Affäre beginnen dürfe, vielleicht nicht ganz so außergewöhnlich.

Schon in »Julie & Julia« ist er als Mentor der später legendä­ren Fernsehköchin Julia Child interessanter als die von Meryl Streep mit ausufernden Manierismen verkörperte Hauptfigur. Tucci verleiht der Beziehung des eulenspiegelhaften Glatzkopfs zu seiner einen Kopf größeren Angebeteten eine leicht kinky Anmutung. In Pauls und Julias Dauerflirt zwischen Küche und Bett spürt man nicht nur, dass sich hier zwei seelenverwandte Nonkonformisten gefunden haben. Man erlebt mit Erstaunen, wie mühelos Tucci die große Streep an die Wand spielt.

»Julie & Julia« (2009). © Sony Pictures

Obwohl von Karrierebeginn an stets im Kreise von Stars auftretend – zuletzt etwa im Oscargewinnerdrama »Spotlight« (2015) – taucht er in namhaften Besetzungslisten oft erst an fünfter, sechster Stelle auf. Tucci, der, abgesehen von seinen Fernsehparts, allein im Kino in bis jetzt über 80 Filmen mitwirkte, gilt seit langem als der König der Nebenrollen. Seine Wirkung ist die eines starken Gewürzes, das sich gegen Diven wie Streep und Thompson behaupten, aber nicht vorschmecken soll. Zum Filmstart von »Der Teufel trägt Prada« (2006), wurde Tucci – der in dieser Komödie, zum ersten Mal an der Seite von Streep, den Art Director der furchterregenden Magazinchefin spielt – von einem Journalisten fast verzweifelt gefragt, warum er keine Hauptrollen angeboten bekomme. »Vielleicht braucht Amerika keinen kleinen glatzköpfigen 46-Jährigen?«, so Tuccis entnervte Antwort.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Tucci, der in »Billy Bathgate« keinen Geringeren als den Mobster Lucky Luciano spielte und in »Road to Perdition« den berüchtigten Mafiaboss Frank Nitti (damals hatte er noch Haare), nie jene Gänsehaut hervorrief wie etwa ein Robert De Niro oder Al Pacino. Zumindest als Mafioso war er nie so markerschütternd theatralisch wie seine berühmten Kollegen, die, wie Tucci, aufgrund ihres italo-amerikanischen Namens und Äußeren zu Gangsterrollen verdammt schienen. Seine bisher historisch böseste Rolle hatte er in der BBC-Fernsehproduktion »Die Wannseekonferenz« (2001), in der er mit stiller Intensität den fleißigen Bürokraten Adolf Eichmann an der Seite von Heydrich – der zampanohafte Kenneth Branagh – mimt. Leisetreterisch ist auch sein Auftritt als Vergewaltiger und Serienkiller im Fantasy-Drama »In meinem Himmel« (2009) von Peter Jackson, für das Tucci seine bisher einzige Oscarnominierung bekam. Da markiert er, mit beiger Funktionsjacke und das Gesicht von Schnauzer, randloser Brille und aschblonder Perücke verdeckt, einen auffällig spießerhaft zurechtgemachten Nachbarn. Selbst in seinem minimalistischen Mienenspiel – auch die Tat wird in diesem außergewöhnlichen Film nur dezent angedeutet – hat er etwas Geckenhaftes, Ironisches. Er ist mit seinem strähnigen Haar­mop, seiner demonstrierten Bräsigkeit, hinter der die innere Anspannung lauert, so creepy, dass er bei einem weniger höflichen Teenager als seinem Opfer – die 15-jährige Saoirse Ronan in ihrer ersten großen Rolle – weiträumiges Umgehen hervorgerufen hätte.

»In meinem Himmel« (2009). © Paramount Pictures

Wo etwa Al Pacino das expressive Alphatier mimt, ist Tucci im Reich der Commedia dell'arte angesiedelt. Nicht zufällig wurde er in der Shakespeare-Verfilmung »Ein Sommernachtstraum« 1999 mit spitzen Ohren und Hörnchen auf der Glatze als Puck eingesetzt. Mimisch ­verlässt er sich ganz auf das Spiel seiner hoch­gezogenen Augenbrauen über dem durchdringenden schwarzen Blick und auf das Tucci-eigene skeptisch-selbstironisch nach unten gezogene Grinsen. Dieser Puck hat durchaus Mitgefühl, nimmt aber weder sich noch die anderen ernst. Dank seiner Fähigkeit, Clownsrollen feine, ironisch-distanzierte Brechnungen zu verleihen, ist Tucci in diesem Jahrzehnt ein Dauergast im Fantasy-Genre, wo er sich, laut eigener Aussage liebend gern, viel verkleiden muss. In »Die Tribute von Panem« (2012-2015) spielt er den Showmaster der Hungerspiele Caesar Flickerman, mit Pferdeschwanz, glänzendem Anzug und blitzendem Berlusconi-­Zähneblecken. Auch dieser aalglatte Regimebüttel lässt hinter seinem geschmeidigen Parlieren Melancholie durchschimmern. Im Fantasy-Film »Percy Jackson: Im Bann des Zyklopen« (2013) ist er ein zauselig-renitenter Mister D: Dionysus, Gott des Weines und der Partys. Im Filmmusical »Die Schöne und das Biest« (2017) wurde für Tucci sogar eine Extrarolle, das sprechende Musikmöbel Maestro Cadenza, geschaffen. Und in »Die Gärtnerin von Versailles« (2014) bringt er als geckenhafter, Federhut schwenkender Graf Philippe d'Orléans etwas Übermut in diese ernste, um das Beackern des Bodens und um Emanzipation kreisende Geschichte.

Tucci ist in seiner Darstellungskunst das Gegenteil jener sendungsbewussten Method Actors, die sich mit dem kleinsten Atom ihres Seins in ihre Rollen hineinzusteigern versuchen. Er scheint keinerlei Berufung für gesellschaftspolitische Auftritte außerhalb des Sets zu empfinden. In Interviews macht er nie ein Hehl daraus, dass er ständig Angst hat, keine Engagements mehr zu bekommen, müsse er doch sein Haus abbezahlen und fünf Kinder ernähren. Und wenn er tagsüber lang genug vor der Kamera den Kasper gemacht hat, fährt er heim und kocht für alle, immer.

Diese Erdung ist bereits in seinem wagemutigen Regiedebüt »Big Night« (1996) spürbar, mit dem es ihm mit Hilfe seiner Leidenschaft für das Kochen gelang, sich aus dem Dunstkreis der Mafia-Filme zu bewegen. Die Tragikomödie über ein von der Pleite bedrohtes italoamerikanisches Restaurant wurde ein Programmkinoschlager, doch seine folgenden vier Filme gehören in die Kategorie Kritikerlieblinge, die nicht viel Geld kosten, dieses aber auch nicht einspielen. Und selbst in seinem eigenen Film gibt er sich mit der Rolle des Secondo, des vernunftgesteuerten Restaurantbesitzers, zufrieden, während Bruder Primo – Tony Shaloub als genialischer Koch – angesichts kulinarischer Banausen herrlich ausflippen darf. Auch in »The Imposters« (1997), einer vielgelobten Hommage an die Slapstickkomödie à la Stan & Ollie, überlässt er seinem Freund Oliver Platt darstellerisch den Vortritt. Und in »Joe Gould's Secret« (2000) über einen von Sir Ian Holm verkörperten New Yorker Bohémien gibt er mit großer Zurückhaltung Goulds journalistischen Entdecker. Sein melancholisches Ehedrama »Blind Date« (2008) fand in Deutschland erst gar keinen Verleih. Und im Künstlerporträt »Final Portrait« (2017), in dem er eine Episode aus dem Leben des Bildhauers Alberto Giacometti beleuchtet, bleibt Tucci erstmals hinter der Kamera.

Zwischen schauspielerischer Pflicht und kreativer Kür ist Tucci aber in seiner Wahlheimat England, wo er nach dem Tod seiner ersten Frau und seiner Heirat mit Felicity Blunt, Schwester von Emily Blunt, lebt, inzwischen auch als kulinarischer Pionier bekannt. Die Zeitung »The Guardian« erinnert sich etwa schwärmerisch an den Programmkinohit »Big Night«, mit dem Tucci der italienischen Küche jenseits von Pizza und Spaghetti-Fastfood zum weltweiten Siegeszug verhalf. Auch Tucci erzählt, wie ihn Köche nicht nur in italo-amerikanischen Restaurants darauf ansprachen, wie treffend er den Dauerkonflikt zwischen pragmatischem Restaurantleiter, der seinen Kunden die verdammten Spaghetti mit Fleischbällchen servieren will, und dem inneren Kochkünstler, der auf Qualität und Authentizität beharrt, dargestellt habe. »Danach war alles anders«, erinnern sich reale Köche angesichts von Kunden, denen durch den Film anspruchsvollere Gerichte schmackhaft gemacht wurden. Tucci hat vor kurzem mit Unterstützung seiner Frau, einer Literaturagentin, das Kochbuch zu »Big Night« neu aufgelegt, gefolgt von einem weiteren Familienkochbuch. Ein Restaurant, sagt Tucci, der ausgebildete Theaterschauspieler, »ist wie ein Theater. Da gibt es Backstage, die Küche, und die Bühne – der Essbereich, und die Performance – Kunden, die sich zum Essen hinsetzen«. Man kann davon ausgehen, dass Tucci, für den das gemeinsame Essen das Allerwichtigste ist, auf seinen Timpano, die Nudelpastete aus »Big Night«, stolzer ist als auf die meisten seiner Filme.

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