Kritik zu Miroirs No. 3
Christian Petzolds in Cannes in der Quinzaine des Réalisateurs uraufgeführter neuer Film zeigt abermals Paula Beer in der Hauptrolle und wirft sie in eine märchenhaft entrückte Sommergeschichte, die vielleicht auch zum Horrorthriller werden könnte
Ist es Charon, der Fährmann, der die Verstorbenen über den Styx in die Unterwelt bringt? So könnte man den Stand-up-Paddler deuten, der in der ersten Szene erscheint. Der Mann ist ganz in Schwarz gehüllt, sogar sein Gesicht ist ein schwarzes Nichts, und der Styx ist irgendein Fluss zwischen mehreren Straßen. Laura, die am Ufer steht und den Paddler beobachtet, wirkt schon hier ganz verstört und nicht mehr von dieser Welt. Danach erst geschieht der schreckliche Unfall, der die Geschichte von »Miroirs No. 3« in Gang bringt: Ein Aufbruch ins Wochenende mit ihrem Freund – im roten Cabrio geht es zum Jachthafen, doch die unglückliche Laura will unbedingt zurück in die Stadt – endet mit einem Crash auf der Landstraße und dem Tod des Freundes. Und dann ist da diese fremde Frau, Zeugin des Unfalls, die in einem verwunschenen Haus direkt an dieser Straße lebt. Wie selbstverständlich – schicksalhaft füreinander bestimmt? – nimmt die ältere Betty die verwirrte, doch sonst fast unverletzte junge Frau bei sich auf. Es entwickelt sich so etwas wie eine Mutter-Tochter-Beziehung, obwohl Bettys Mann und Sohn, die in der Nähe in ihrer kleinen Autowerkstatt leben, höchst merkwürdig auf Laura reagieren …
Nach »Roter Himmel« ist es ein weiteres Mal eine sommerlich-ländliche Szenerie, wie abgeschnitten von der übrigen Welt, in der Christian Petzold seine Geschichte ansiedelt. Und wieder, zum bereits vierten Mal, hat Paula Beer die Hauptrolle übernommen, in einem Ensemble von lauter alten und neueren Bekannten aus dem Petzold-Universum: Barbara Auer spielt Betty, Matthias Brandt ihren Mann Richard, Enno Trebs den Sohn Max. Doch anders als »Roter Himmel« ist »Miroirs No. 3« – nach einem Klavierzyklus von Maurice Ravel benannt – eine trotz der Helligkeit und Klarheit ihrer Bilder dunkle, abgründige Geschichte.
Hat man noch den wunderbaren Flow im Gedächtnis, mit dem Petzold zuletzt erzählte, irritiert die gesteigerte Sprödigkeit und Artifizialität von Situationen und Dialogen seines neuen Films, vor allem in den ersten Szenen. Mancher Moment wirkt geradezu ungelenk, bis man sich in die sehr eigenartige Schwingung von »Miroirs No. 3« eingefunden hat. Dann aber entfalten vor allem das Spiel und Zusammenspiel von Paula Beer und Barbara Auer eine eigene Dynamik, vor allem, als klar ist, dass es in dieser beschädigten Familie um den Verlust der Tochter geht, es aber geheimnisvoll bleibt, wohin das schräge Stellvertreterspiel um Laura führen soll.
Die junge Pianistin, als die sich Laura herausstellt, fängt in der trügerischen ländlichen Idylle gewissermaßen ein neues Leben an, in einem Phantasma, das sie gemeinsam mit Betty und dann auch der Mitwirkung ihrer Familie erschafft und in der jeder sein eigenes Spiel zu spielen scheint. Es ist ein zärtlich gezeichneter Kokon aus familiärer Geborgenheit, gemeinsamen Essen, Besuchen in der Autowerkstatt. Doch die ganze Zeit ist klar, dass er nicht von Dauer sein kann.
Petzold fächert eine Vielzahl von – bisweilen auch etwas zu deutlich ausgestellten – Bezügen auf, vom Märchen zum Film noir und Horrorfilm, doch auch von Rohmer-Situationen und Western-Bildern: das einsame Haus im Nirgendwo; die rätselhafte Fremde, die nach einem Unfall aufgenommen wird; eine Familie, die ein dunkles Geheimnis hütet und deren Motive im Zwielicht bleiben. Aber ist Laura überhaupt noch am Leben oder ist sie, wie etwa Nina Hoss in »Yella« (2007), bereits tot und weiß es nur noch nicht? Eine Tote, die in einer um eine andere Tote trauernden Familie eine Art Auferstehung erlebt, zugleich Gespenst ihrer selbst und Wiedergängerin der anderen? Reich an Ambivalenzen und Spiegelungen, ist »Miroirs No. 3« natürlich nicht nur ein Sommerfilm, sondern wie die meisten Filme Petzolds auch eine Gespenstergeschichte.
Es würde aber etwas fehlen, erwähnte man nicht die leichten Momente, die der Film ebenso hat, kleine ironische Volten und schwebende Fahrradfahrten über die Felder. Oder eine wundervolle Szene zwischen Paula Beer und Enno Trebs, in der sie am Gartentisch vor der Werkstatt sitzen, stumm einen Song anhören und plötzlich beide gleichzeitig in Lachen ausbrechen. Als ob für einen Moment der Schleier von Trauer, Trauma und Illusion durchbrochen würde.
In Christian Petzolds Filmographie wird »Miroirs No. 3« wohl eher als ein Nebenwerk eingehen, ein Spiel mit reizvollen Motiven, die aber teils skizzenhaft bleiben. Im Kontext mit seinen anderen Werken betrachtet ist er ein weiterer sehenswerter Mosaikstein in seiner an faszinierenden Geschichten und Metaphern so wunderbar reichen erzählerischen Welt.
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