Kritik zu Träum was Schönes

© Movienet

Die abwesende Mutter ist ein Thema, zu dem Marco Bellocchio seit seinem Regiedebüt regelmäßig zurückkehrt. Seine Romanverfilmung nach Massimo Gramellini schildert eine verzweifelte Suche nach Ablösung und Identität

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»Liebst du das Leben, Massimo?«, fragt die Mutter seines Schulkameraden. Sie ist eine ausnehmend sinnliche Frau, die heftig mit ihrem störrischen Sohn streitet und sich sodann vergnügt mit ihm balgt. Massimo schaut dem ausgelassenen Spiel der zwei befangen zu. Er bleibt die Antwort schuldig. Der Zwölfjährige fühlt sich zu sehr an das Zusammensein mit der eigenen Mutter erinnert, die vor drei Jahren aus heiterem Himmel starb.

Die Umstände ihres Todes sind mysteriös. Der Verlust hat ihn zu einem zweifelnden, wissbegierigen Kind werden lassen. Dreißig Jahre später, als er in die elterliche Wohnung zurückkehrt, um den Nachlass seines Vaters zu ordnen, steht er noch am gleichen Punkt. Seine Seele konnte nicht Schritt halten mit dem Prozess des Heranreifens, der ihm äußerlich gelungen ist. Aber auch in der wachsamen, fragilen Virilität, die ihm Valerio Mastandrea als Vierzigjährigem gibt, scheint noch die unerlöste Verzweiflung des Kindes auf.

Marco Bellocchios Verfilmung des autobiografischen Bestsellers von Massimo Gramellini wechselt behände zwischen mehreren Zeitebenen, ist dabei aber von analytischer, bald therapeutischer Klarheit. Massimo ist dazu verdammt, existenzielle Momente immer wieder zu durchleben. Zugleich aber stößt ihn das Leben in lauter Situationen, von denen er zunächst glaubt, sie nicht bewältigen zu können.

Bellocchio erzählt diese Biografie mit bekümmerter Zuversicht. In Massimos Kindheit ist Belphégor, der »Geist des Louvre« aus der Lieblingsserie der Mutter, sein einziger Vertrauter. Vater und Sohn können einander für lange Zeit nicht erreichen. Bis sie bei einem Fußballspiel gemeinsam teilhaben an der frenetischen Begeisterung im Stadion – eine entscheidende Wegmarke in Massimos Leben. Als Erwachsener münzt er diese Euphorie in einen Beruf um und wird Sportjournalist. Eine dramatische Wendung lässt ihn zum Kriegsberichterstatter werden; in Sarajevo lernt er auch die mediale Ausschlachtung des Leids kennen. Dann vertraut ihm sein Chefredakteur eine neue Aufgabe an: Er soll auf den Brief eines verzweifelten Lesers antworten, der mit seiner lieblosen Mutter abrechnet. In dieser Kolumne rekapituliert Massimo sein eigenes Schicksal als Halbwaise: mit einer gleichsam selbstlosen Sensibilität, die eine ungeheure Resonanz in der Leserschaft findet. Bellocchio inszeniert das als wehmütigen triumphalen Umschlagspunkt: ein entscheidender Schritt zur Befreiung, aber noch keine Katharsis.

Der Zuschauer mag zwar bald erahnen, worin das verdrängte Familiengeheimnis besteht. Aber der Film will Massimos schwierigem Erkenntnisprozess nicht vorgreifen. Daniele Ciprìs Kamera taucht ihn in ein Wechselbad der kalten und warmen Töne. Den Momenten erinnerter Geborgenheit stehen unweigerlich Szenen entgegen, denen die Farben radikal entzogen sind. Fast könnte man sie für Schwarz-Weiß halten. Sie sind das Monochrom einer Depression. Es regt sich Widerstand in ihnen. Farbakzente leuchten auf, die zwar gedämpft und entsättigt sind, aber darauf bestehen, dass das Leben wieder Strahlkraft entwickeln muss.

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