Kritik zu L'immensitá – Meine fantastische Mutter

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Emanuele Crialese nimmt sich Zeit für seine Filme. Die autobiografisch inspirierte Geschichte einer Transition hat er sich aufgehoben für eine Zeit, die dafür reif ist

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Dort, wo sonst die Wäsche zum Trocknen hängt, spannt Adriana ein Netz aus Seilen. Es sieht beinahe wie ein Pentagramm aus, dient aber einem undämonischen Zweck. Adriana sendet vom Dach ihres Wohnhauses in Rom ein Signal an die Außerirdischen, von denen sie glaubt, dass sie sie hier ausgesetzt haben. Gebt mir ein Zeichen, fleht sie den Himmel an, aber auch diesmal bleibt es aus.

Es schafft eine besondere Spannung, wenn die erste Szene eines Films dem Publikum Rätsel aufgibt: Warum hat der Regisseur gerade sie an den Anfang gestellt? Emanuele Crialese hat keine Eile, uns in die Lösung einzuweihen. Adrianas Überzeugung nimmt er derweil ernst. Später, nach einer Krise in der Familie, zieht die Tochter erneut ein Netz von Fäden, nun durch die Wohnung. Diese magische Vermessung ihrer Welt findet eine schöne Replik im Abspann des Films, dessen Titel aus einer anmutig verschlungenen Linie bestehen.

Adriana (Luana Guiliani) glaubt, von einer anderen Galaxie zu kommen. Eigentlich meint sie damit, dass ihre Eltern einen Fehler begangen haben. Sie hätte nicht als Mädchen geboren werden sollen. Sie fühlt sich als Junge und besteht darauf, mit Andrea (im Italienischen ein rein männlicher Vorname) angesprochen zu werden. Ihren Körper verbirgt sie möglichst, am liebsten trägt sie eine rote Lederjacke, die sie mit Orden und einem Sheriffstern geschmückt hat. Ihre kleinen Geschwister, Gino und Diana, wissen von der heimlichen Zwiesprache mit den Himmelsmächten. Mutter Clara (Penélope Cruz) toleriert Andreas Hadern mit dem Geschlecht mal mehr, mal weniger; sie fühlt nach, wie es ist, in eine Rolle gedrängt zu werden. Vater Felice (Vincenzo Amato) sind solche Flausen ein Dorn im Auge. Er hält sich für den Einzigen, der in dieser Familie »normal« ist. Das stimmt insofern, als er den patriarchalen Normen der italienischen Gesellschaft der 1970er Jahre entspricht; einschließlich familiärer Gewalt, unverhohlener Seitensprünge und emotionaler Unerreichbarkeit. In der katholischen Kirche, die Andrea/Adriana besucht, ist der Unterricht noch streng nach Geschlechtern getrennt.

Es ist eine einerseits ausgelassene Kindheit, an die sich Crialese in seinem autobiografisch grundierten Film zurückerinnert: voller Mutproben und einfallsreicher Streiche, voller Tanz und Musik. Clara ist eine erwachsene Spielkameradin ihrer Kinder, die Küche und Esszimmer flugs in eine Disco verwandeln kann und die nach wie vor das Ritual des Wettrennens durch belebte Straßen (mit Gebrüll!) liebt. Ungetrübt ist Andreas Kindheit nicht; sie ist eingebunden in die Probleme der Eltern und der Geschwister, die unter der Zerrüttung der Ehe leiden. Clara lebt Andrea vor, wie man von Freiheit und Glück träumen kann. Das Kind verehrt sie wie eine Filmdiva. Eingangs studiert die Kamera mit mikroskopischer Zärtlichkeit Cruz' Antlitz. »Kannst du aufhören, schön zu sein?«, fragt Andrea die Mutter mit einer Mischung aus Vorwurf und Wehmut. Denn längst ist er Zeuge ihres inneren Erlöschens.

Solange er noch in einem Mädchenkörper steckt, will Andrea zumindest die Welt verwandeln, in die es ihn verschlagen hat. Seine Fantasie ist dafür immens genug. In seinen Tagträumen werden plötzlich die ungeliebten Schuluniformen aus dem Fenster geworfen und konvertiert der Gottesdienst zu einem Showauftritt Adriano Celentanos, an dem die Mutter als Go-Go-Tänzerin mitwirkt.

Aber auch die Welt besitzt Fantasie in Crialeses klarsichtig-nostalgischer Beschwörung. Das Leben macht Andrea manch verheißungsvolles Angebot. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt ein Wäldchen aus Schilf, das die Kinder nicht betreten dürfen. Natürlich hält das Tabu die Unternehmungslustigen nicht zurück und sie entdecken dahinter eine Siedlung von Arbeitsmigranten. Dort sind sie willkommen. Andrea lernt die aufweckte Sara kennen, die davon träumt, Tänzerin oder Schlangenmensch zu werden. Eine tastende, entschlossene Nähe entsteht zwischen ihnen, die niemand anderes verstehen würde. Aber diese Zwei erkennen einander. Und manchmal sind die schönsten Leinwandküsse gerade jene, die folgenlos bleiben dürfen.

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