Emanuele Crialese: Filmen gegen die Angst

Emanuele Crialese mit Penélope Cruz am Set von »L'immensità« (2022). © Prokino

Emanuele Crialese mit Penélope Cruz am Set von »L'immensità« (2022). © Prokino

Elf Jahre lang war Emanuele Crialese als Regisseur von der Bildfläche verschwunden – nach internationalen Erfolgen wie »Lampedusa« und »Golden Door«. Sein neuer Film »L'immensità« ist nun sehr persönlich geworden, inspiriert von seiner Jugend im Rom der siebziger Jahre. Mit Thomas Abeltshauser sprach er auf dem Festival von Venedig über familiäre Prägung, Bauchgefühle beim Filmemachen und seine Erfahrungen als Trans-Mann
 

Auf dem Schuttgelände hinter dem Neubaugebiet sitzen die Teenager Andrea und Maria in einem Autowrack, Maria bietet Andrea ihre Zigarette an, es ist mit zwölf das erste Mal. »Ich will Tänzerin werden«, sagt Maria unvermittelt, »oder Schlangenfrau. Ich möchte reisen.« Andrea muss nicht lange überlegen: »Ich will Astronaut werden oder Flugzeugpilot. Oder Fallschirmspringer. Ich möchte im Himmel sein.« Maria lächelt. »Du bist ein komischer Junge.« – »Ich weiß.« Zwei Jugendliche, die festsitzen, in den Verhältnissen im Rom der siebziger Jahre und den Erwartungen ihrer Familien, und die sich ein anderes, besseres Leben vorstellen. Andrea heißt da eigentlich noch Adriana, fühlt sich aber als Junge. Maria, das Mädchen von der anderen Seite des Schilfwaldes, hat das sofort so akzeptiert. Hier, am Steuer eines Wagens und abseits einer Umwelt, die all das nicht versteht, wagt Andrea den ersten Kuss. Die beiden lächeln und schweigen. Für einen kurzen Moment ist alles gut, scheint alles möglich in »L'immensità«, dem fünften Spielfilm vom Emanuele Crialese.

Vielleicht saß Crialese selbst auch einmal in einem solchen Autowrack, mit dem es kein Entkommen gab, und erträumte sich, damals physisch noch ein Mädchen, seine Zukunft. Jahre, bevor er mit Filmen wie »Golden Door« und »Lampedusa« zum international gefeierten Regisseur wurde. Von seiner Genderdysphorie in der Jugend und der späteren Transition zum Mann wussten bis vor Kurzem nur wenige; im vergangenen Herbst ging der inzwischen 58-Jährige damit an die Öffentlichkeit. Nicht als Bekenntnis, sondern in Form eines Spielfilms, in dem er seine Jugenderfahrungen im Rom der siebziger Jahre verarbeitete. Im Wettbewerb von Venedig uraufgeführt, kommt der Film nun bei uns ins Kino.

Es ist Crialeses erste Regiearbeit seit »Terra­ferma« 2011 und ein persönlich wichtiger Schritt. Das ist dem Regisseur am Tag nach der Premiere in Venedig anzumerken, als er sehr freundlich, aber auch nervös zum Vieraugengespräch in einer Hotelsuite am Lido erscheint. In den Tagen zuvor hatte sich vor allem die italienische Presse auf die vermeintliche Enthüllung gestürzt, einer der wichtigsten Filmemacher des Landes sei früher eine Frau gewesen. Dabei ist »L'immensità« zwar von eigenen Erinnerungen inspiriert, geht aber über autobiografische Bezüge weit hinaus, wie Crialese im Gespräch erklärt, zugewandt und reflektiert, dabei immer wieder um Worte bemüht. »Ich habe diesen Film viele Jahre mit mir herumgetragen, wollte diese Geschichte schon sehr lange erzählen. Aber erst jetzt mit einem gewissen Alter beginne ich, die notwendige Reife und Selbstsicherheit zu spüren, mich der Herausforderung zu stellen. Nicht, weil ich dachte, ich sei bereit, mit Details meines Privatlebens an die Öffentlichkeit zu treten. Mir war das Thema wichtig, so wie ich auch in meinen früheren Filmen relevante Themen behandelte, die Situation von Geflüchteten im Mittelmeerraum etwa.« Er betont, den Film nicht als Vehikel inszeniert zu haben, »um jetzt nur über meine Transition zu sprechen. Der Film ist nicht meine Autobiografie. Aber ich weiß auch, dass wir mehr Courage in der Welt brauchen. Ich bin die Angst leid. Angst ist ein Mittel, Menschen zum Schweigen zu bringen. Das werde ich nicht tun«.

Für einen Schritt, wie ihn Crialese mit diesem Film macht, braucht es Selbstvertrauen und Mut. So herausfordernd sein Aufwachsen als Transkind und die spätere Transition immer wieder gewesen sein mögen – es ist nicht zu unterschätzen, damit an die Öffentlichkeit zu treten, selbst mit Ende 50. »Ich habe sehr bewusst die Entscheidung getroffen, keinen Film über eine Transition und auch kein Coming-out-Drama zu machen. Ich hätte natürlich viel dazu zu sagen, weil ich es jeden Tag lebe. Aber ich fand es nicht besonders ergiebig, dem weiter nachzugehen. Mich interessierte viel mehr, allgemeiner etwas über Identitätssuche innerhalb einer Familie zu erzählen. Wir wachsen auf und entwickeln unsere Identität durch die Beziehungen zu anderen Menschen. Und die Familie ist die erste Bindung, die wir haben. Wir alle waren einmal Kinder und bleiben auf eine Art immer die Kinder unserer Eltern. Dieser sehr spezifischen Kondition wollte ich nachgehen. Es ist eher ein Prozess als ein Resultat.«

Einige Parallelen zu Crialeses Leben sind deutlich. Geboren am 27. Mai 1965 als Kind sizilianischer Eltern in Rom, wuchs er, damals biologisch noch ein Mädchen, mit zwei Geschwistern in Rom auf. Der Vater war gewalttätig, seiner Frau gegenüber, aber auch dem Kind, das nicht seinen Vorstellungen entsprach. Eine Scheidung war im Italien der Siebziger für die Mutter keine Option. Später studierte Crialese in Rom an der Libera Università del Cinema, dann an der Tisch School der New York University.

Das eigene Leben als Ausgangspunkt für eine fiktive Geschichte zu nehmen, war nicht einfach, wie er zugibt. »Mein Ziel war, eine möglichst universelle Geschichte zu erzählen, die Mütter, Väter und Kinder gleichermaßen berührt. Es hat mich einige Zeit gekostet, mir über die beiden Geschwister von Adriana und ihr Verhältnis klar zu werden. So wie Adriana mit ihrem Körper hadert, brauchte ich auch für die anderen Kinder psychosomatische Reaktionen auf die angespannte, oft lieblose Situation im Elternhaus. Die Jüngste, Diana, isst zu wenig, Gino isst zu viel.« Mutter Carla, zerbrechlich und kämpferisch zugleich von Penélope Cruz verkörpert, und ihr ältestes Kind Adri/Andrea (Luana Giuliani) passen beide nicht hinein in diese Welt; sie sind das Herz des Films, ihnen gehört auch die Zuneigung des Regisseurs.

Bereits in seinen früheren Filmen hat Crialese Außenseiter und Suchende zu Protagonisten gemacht, die er mit Wohlwollen und großer Empathie porträtierte. In seinem 1997 in den Vereinigten Staaten entstandenen Debüt »Once We Were Strangers« geht es um zwei Migranten und ihren schwierigen Alltag in New York City. Im Zentrum von »Lampedusa« (2002) steht eine junge bipolare Mutter, die sich mit Hilfe ihres Sohnes in einer Grotte versteckt, um der Einweisung in ein Sanatorium zu entgehen. »Golden Door« (2006) handelt von einer sizilianischen Bauernfamilie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts per Schiff in die »Neue Welt« auswandert und auf Ellis Island den rigiden Immigrationsregeln standhalten muss. Und mit »Terraferma« kehrte Crialese 2011 nach Lampedusa zurück und drehte ein mit größtenteils Laiendarstellern besetztes Sozialdrama über die Konflikte einer Fischerfamilie, die afrikanische Geflüchtete bei sich aufnimmt.

Für seine Träumer, Wanderer und Glückssucher findet Crialese immer wieder ausdrucksstarke Metaphern, die oft verrätselt und mehr im Mythischen als in der realen Welt verortet sind. Zu Beginn von »Golden Door« etwa klettern junge Männer über die sizilianischen Bergfelsen, in ihren Mündern tragen sie Steine. Das Leben auf der Insel ist erdverbunden und vormodern, stark vom Aberglauben geprägt. Auf den Postkarten, die unter den Auswanderwilligen kursieren, wird die »Neue Welt« als Schlaraffenland präsentiert, in dem mannsgroße Zwiebeln und riesige Geldmünzen auf Bäumen wachsen. Mit der transatlantischen Überfahrt von Sizilien nach New York geht es auch um die Metamorphose zum modernen Menschen, erzählt in aufgeladenen Bildern wie dem Moment, wenn sich in einer spektakulären Aufsicht das Schiff vom Hafen ablöst, Trennung und (Wieder-)Geburt zugleich. In »Lampedusa« verharrt Crialese ganz in dieser archaischen Inselwelt; die kargen Felsen werden zum allegorischen Raum, in dem die Mutter zwischen kindlichem Zorn und Eskapismus gegen patriarchale Konventionen rebelliert. Und in »Terraferma« ist das europäische Mittelmeer zugleich Transitraum, Sehnsuchtsort und politischer Zustand. Durch die Überhöhung des Realen zielt Crialese mit seiner Weltdeutung eher auf die Emotionen als die Ratio, erreicht damit im Ideal ein unmittelbareres und weitreichenderes Verständnis. Die Poesie ist bei ihm immer auch Politik, das Mythische ist zugleich Kritik an bestehenden Verhältnissen und eröffnet utopische Möglichkeiten.

Womöglich hat dieses anhaltende Interesse für die Sehnsucht nach einem besseren Leben ebenso wie für Inseln etwas mit der Einsamkeit und Ausgrenzung zu tun, die er als Transkind erfahren hat. In »L'immensità« ist es ein Schilfwald, der zwei Welten trennt: Hier das Neubaugebiet, in dem Andrea mit seinen Eltern und ­Geschwistern lebt, auf der anderen Seite die temporären Hütten der Wanderarbeiter und ihrer Familien. Für Andrea ein aufregender, freierer Gegenentwurf zum oft restriktiven, konfliktreichen und wenig Verständnis für seine Bedürfnisse zeigenden Umfeld zu Hause. Sobald er durch das Schilf hindurchgetreten ist, kann er sein, wer er will. »Vielleicht muss man sich erst verlieren, bevor man die Liebe findet«, sagt der Regisseur und hält dann gleich inne. »Ich höre mich diese Dinge sagen und bereue es sofort. Weil es dem Ganzen eine Symbolik gibt, die vielleicht gar nicht so wahrgenommen wird. Aber das waren meine Gedanken beim Schreiben.«

Als wir über das Aufwachsen als queere Person in katholisch geprägtem Umfeld zu sprechen kommen, sind Crialese die Verletzungen anzumerken. »Als in den achtziger Jahren Menschen an Aids zu sterben begannen, sagten auch in Italien die Kirche und das Establishment, es sei eine Strafe Gottes. Und in dieser Phase meines Lebens, in der ich mich orientierungslos und verloren fühlte, haben mich diese Anschuldigungen schwer getroffen. Es gab Momente, in denen ich selbst zu glauben begann, meine Art zu leben sei aus Gottes Perspektive falsch.« Der Einfluss ist auch in »L'immensità« noch zu spüren, wenn etwa in der Messe, die strikt nach Jungen und Mädchen getrennt ist, Andrea gezwungen ist, bei Letzteren zu sitzen. Als der Priester die Hostien verteilt, verwandelt sich die Kirche in Andreas Fantasie in eine glitzernde Fernsehshow-Welt, in der er und seine Mutter das Starpaar sind.

Für die Genderdysphorie selbst kann und will Crialese im Film keine Erklärung liefern, er nähert sich dem Thema sehr subjektiv und poetisch überhöht als Reaktion auf die familiäre Situation. »Mitzuerleben, wie sich die Eltern ständig streiten, löste bei mir eine Sehnsucht aus, Frieden herzustellen zwischen den Geschlechtern, zwischen Vater und Mutter. Und vielleicht liegt darin auch einer der Gründe für Adrianas Entwicklung. Sie versucht, in ihrem eigenen Körper das Weibliche und Männliche zu vereinen. Adriana versucht, ihre Mutter zu beschützen, die sie als verletzlich wahrnimmt. Deswegen muss sie zum Mann werden.«

Die Balance zwischen der bisweilen poetischen Filmsprache und dem sozialen Realismus der Ära entstehe organisch, versichert Crialese. »Wahrscheinlich ist gerade das meine Methode oder meine Herangehensweise an ein cineastisches Abenteuer: Ich weiß nicht genau, was ich tue. Was ich will, weiß ich dagegen sehr wohl, aber es ist eine Suche, eine Entdeckungsreise durch mein Innerstes. Ich stelle mir selbst wie besessen viele Fragen, daraus ergeben sich dann im Idealfall universale Themen. An einem Punkt muss das dann aufhören, weil schließlich ein Film gedreht werden muss, der das Resultat all dieser Fragen ist. Es gibt also viele Dinge, die ich nicht unter Kontrolle habe, und ich mag es, so zu arbeiten.«

Der richtige Tonfall sei immer am schwierigsten, wenn er einem Gefühl nachspüre. »Manchmal entsteht etwas, und ich spüre es körperlich, dass es nicht funktioniert, ohne zu wissen, warum. Und dann versuche ich etwas anderes, und mein Körper sagt mir, so geht es ein bisschen besser. Das Filmemachen ist dem Leben sehr ähnlich, einem Leben unter sehr gefährdeten Bedingungen. Ich muss schnell reagieren können. Nachdenken kann ich nur in der Vorbereitung.« Doch auch das versuche er zu vermeiden, aus Angst, mit einem zu starren Konzept an den Dreh heranzugehen. »Wenn man wie ich gern mit Kindern arbeitet, ist man chaotischen Elementen ausgesetzt, die sich oft nur schlecht kontrollieren lassen. Kinder lassen sich nicht zwingen, ich muss mit dem spielen, was sie mir bieten, und mich davon leiten lassen, bis die Szene für sich funktioniert. Der Weg dorthin ist für mich noch immer sehr mysteriös.«

Wichtige Bestandteile des Films sind die italienische Popmusik und TV-Shows dieser Zeit, in denen Stars wie Patty Pravo, Adriano Celentano und Raffaella Carrà aufgetreten sind. Die Familie versammelt sich regelmäßig vor dem Fernsehkasten, um dem Alltag zu entfliehen, vor allem Clara und die Kinder, und um Choreografien im Wohnzimmer nachzutanzen. Auch das hat einen starken autobiografischen Bezug, erklärt Crialese. »In meiner Jugend war Popmusik überlebenswichtig. Oft halfen mir Songs, mich in eine schönere Welt zu träumen. Sie halfen mir, nicht durchzudrehen.« Der Fernseher sei wie ein Lagerfeuer gewesen. »Er spendete Wärme und brachte mich in eine andere, heilere Welt. Ich fantasierte mich selbst in dieses Showuniversum hinein, stellte mir vor, wie Mama und Papa dort auftreten. Ohne es bewusst wahrzunehmen, begann bereits damals meine Affinität für alles Visuelle, für Schauspieler, Sänger und Tänzer. Sie waren meine Rettung. Und ich beschloss, in dieser Welt arbeiten zu wollen.«

Einen besonderen Stellenwert in »L'immensità« hat ein Song mit dem unaussprechlichen Titel »Prisencolinensinainciusol« – hier in einem legendären Auftritt von Adriano Celentano und Raffaella Carrà. »Das Lied habe ich damals schon geliebt«, erinnert sich Crialese. »Heute verstehe ich auch besser warum. Nicht nur, weil Celentano und Carrà so cool waren und der Beat so tanzbar. Sondern weil Celentano einfach Wörter erfand. Er tut so, als würde er Englisch singen, aber es ist reinstes Kauderwelsch.« 1973 mokierte sich Celentano damit über den Trend in Italien, alles Englischsprachige toll zu finden, auch wenn das Publikum die Texte meist gar nicht verstand. Crialese geht es aber um mehr. »Für mich steht ›Prisencolinensinainciusol‹ symbolisch für die Sprache, von der ich mir wünsche, sie würde neu erfunden, um bestimmte Gefühle und Gedanken zu beschreiben und in Worte zu fassen. Ich glaube nicht, dass wir über diese Sprache schon verfügen. Viele Menschen sind überfordert, und sie versuchen, uns in Kategorien einzuordnen.« Begriffe wie LGBTQI* seien wichtig, um alte binäre Vorstellungen und Repräsentationen zu überwinden. »Wir brauchen den Mut, neue Strukturen und Sprachmodelle zu finden.« Angst, etwa politisch Unkorrektes zu sagen, sei dabei unangebracht, findet Crialese. »Ich spreche nur für mich, aber ich fühle mich nicht herabgewürdigt, wenn mich jemand aus Versehen mit dem falschen Pronomen anspricht.«

Gegen Ende des Gesprächs vergleicht Crialese seine Jugend in den siebziger Jahren mit der Gegenwart und freut sich, dass die junge Generation in der Hinsicht viel freier sei. »Jugendliche scheren sich heute wenig um Rollenbilder, sie wollen nicht in Schubladen gesteckt werden. Und sie wollen die Älteren nicht beruhigen, das ist nicht ihre Aufgabe. Sie begegnen anderen Menschen unabhängig von Zuschreibungen. Denn wir sind alle verschieden. Diese Haltung gefällt mir, da bin ich ganz bei ihnen. Halt mich nicht auf, nur weil du glauben musst, dass alles in Ordnung ist, wenn sich alle einteilen lassen, in Männer und Frauen, hetero- und homosexuell. Und damit ist die Situation dann unter Kontrolle?! Ich will gar nichts unter Kontrolle haben. Ich will das Privileg, ein menschliches Wesen zu sein. Und eine der Aufgaben als Mensch ist es, frei zu experimentieren, Dinge zu wagen und auch zu scheitern.« Mit seinem Film hat Emanuele Crialese dies eindrücklich unter Beweis gestellt.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt