Kritik zu Intrige

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Roman Polanski rekonstruiert die Affäre Dreyfus und die Erschütterungen, die sie im Frankreich des Fin de Siècle auslöste, mit großer Genauigkeit und erstaunlicher Aktualität. Jean Dujardin spielt den entscheidenden Whistleblower aus den Reihen des Militärs

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Es ist eine Degradierung nach allen Regeln des militärischen Zeremoniells: In der Mitte des weitläufigen Hofs der Pariser École militaire, unter den Augen Hunderter strammstehender Soldaten und begafft von Schaulustigen, werden dem wegen Hochverrats verurteilten Artillerieoffizier Alfred Dreyfus die Epauletten von der Uniform gerissen und sein Säbel zerbrochen. Zum krönenden Abschluss muss der Bestrafte, der mit sichtbarer Mühe die Fassung wahrt, noch die Reihen seiner Kameraden abschreiten.

Roman Polanski beginnt seinen 22. Spielfilm mit dieser Szene vom 5. Januar 1895, die eigentlich der Endpunkt der »Affäre Dreyfus« sein sollte. Mit der anschließenden Deportation des vermeintlichen Spions für das Deutsche Reich auf die Teufelsinsel im Atlantik glaubte man die Sache erledigt – in Wahrheit war es erst der Auftakt für den wahren Skandal. Laut Polanski hat ihn bereits in sehr jungen Jahren William Dieterles Umsetzung der Degradierung in »Das Leben des Emile Zola« (1937) zutiefst erschüttert, und wie eindringlich er jetzt selbst diese größte denkbare Demütigung eines Militärs inszeniert, setzt den Ton für ein von tiefem Ernst und historischer Genauigkeit geprägtes Werk.

Die Einladung von Polanski mit »Intrige« in den Wettbewerb von Venedig im vergangenen Jahr hatte im Gefolge der »Me-Too«-Debatten einige Kontroversen zur Folge, die dann zur Pariser Premiere des Films noch einmal umso stärker aufflammten, denn zusätzlich zu dem belegten Missbrauchsfall aus dem Jahr 1977 wurde nun ein weiterer Vergewaltigungsvorwurf gegen Polanski erhoben. Doch was auch immer man vom Menschen Polanski hält, als Filmemacher beweist er mit dem neuen Werk abermals seine überragenden handwerklichen wie künstlerischen Fähigkeiten. »Intrige« ist sein kraftvollster und wichtigster Film seit langem. Und so widersprüchlich es klingen mag: Für sich betrachtet und im Gegensatz zu seinem Urheber besitzt dieser Film auch eine moralische Strahlkraft.

Beeindruckend ist bereits, wie Polanski und sein Co-Autor Robert Harris – sie arbeiteten bereits bei »Der Ghostwriter« zusammen – die recht komplexe Dreyfus-Geschichte, die Harris zunächst als Roman bearbeitet ­hatte, in eine packende Filmerzählung verwandelt haben. Zunächst wie ein historischer Detektivfilm aufgezogen, wird »Intrige« zum Gewissensdrama und schließlich auch zum Gerichtsdrama. Hauptfigur in diesem Szenario ist nicht Dreyfus selbst, sondern Oberst Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), der im Laufe der Affäre zu einem Whistleblower avant la lettre werden sollte: Kurze Zeit nach Dreyfus' Verbannung bekommt Picquart die Leitung des Auslandsgeheimdiensts übertragen. Anfangs ebenfalls von Dreyfus' Schuld überzeugt, wird er stutzig, als sich herausstellt, dass die Deutschen offenbar weiterhin Geheim­informationen aus der französischen Armee erhalten, und er beginnt nachzufragen, nachzuforschen, die Indizien zu prüfen. Bald kann er auch den wahren Schuldigen identifizieren, während es immer deutlicher wird, dass der aus dem Elsass stammende Jude Alfred Dreyfus ein willkommener Sündenbock war und der militärische Apparat ihm in einer kruden Mischung aus Bequemlichkeit und Heimtücke den Hochverrat angehängt hat. Picquarts Vorgesetzte wollen von seinen Erkenntnissen nichts wissen und befehlen ihm zu schweigen. Doch auch seine zwischenzeitige Verschickung in die Kolonien kann die dramatischen Entwicklungen nun nicht mehr aufhalten. Es kommt zu einer Reihe neuer Gerichtsverhandlungen; Emile Zola veröffentlicht seinen berühmten offenen Brief »J'accuse«, in dem er vehement die Korruption in der Generalität anklagt; ganz Frankreich gerät über Schuld oder Unschuld von Dreyfus in Aufruhr; der auch zuvor allgegenwärtige, doch eher stille Antisemitismus bricht sich nun lautstark und gewalttätig Bahn. Erst im Jahr 1906, elf Jahre nach Beginn des Skandals, wird Alfred Dreyfus vollständig rehabilitiert, Picquart wird Kriegsminister.

All dies erzählt Polanski mit vollkommener Nüchternheit und Präzision. Auch dramatische Momente inszeniert er zurückhaltend, in uneingeschränktem (und berechtigtem) Vertrauen auf die Kraft der Geschichte. Bemerkenswert auch das Gespür für Rhythmus, das den überwiegend kammerspielhaften, dialogreichen Szenen eine erstaunliche Spannung verleiht. Visuell und atmosphärisch ist »Intrige« ebenfalls eindrucksvoll gestaltet: In gedeckten Farben, mit beträchtlichem Aufwand und einer Vielzahl sprechender Details lässt Production Designer Jean Rabasse das Paris des Fin de Siècle und dessen Militärmilieu wiederauf­erstehen. Aus den genau austarierten, von Braun-, Grau- und Blautönen beherrschten Bildern von Pawel Edelmann (»Der Pianist«) stechen die roten Elemente der französischen Uniformen symbolhaft heraus – Kennzeichen einer Klasse, deren Ehrbegriff über allen Fragen von Moral oder Gewissen steht. Faszinierend auch der Blick des Films auf die Geheimdienstarbeit jener Zeit, auf Details wie Fotografien und zerrissene, dann wieder mühsam rekonstruierte Schriftstücke, sowie die damalige High Tech für Spione: erste Kodak-Kameras und Telefone.

Auch wenn einige Offiziere in ihrer kalten Selbstgefälligkeit etwas zu grob konstruiert scheinen – die Arroganz der Macht lässt immer wieder mal an die Generäle in Kubricks »Wege zum Ruhm« denken –, die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet und außerdem glänzend gespielt. Jean Dujardin war vermutlich nie besser denn hier als moralisch gar nicht so einwandfreier Kämpfer für die Gerechtigkeit. Sein Picquart hat eine heimliche Affäre mit einer verheirateten Frau und ist zwar kein fanatischer, doch ein »natürlicher« Antisemit. Dennoch lassen ihn sein Gerechtigkeitssinn und ein Ehrgefühl, welches das eigene Gewissen über militärische Disziplin stellt, schließlich sogar sein Leben für die Wahrheit riskieren, denn für die »Anti-Dreyfusarden« gilt er nun ebenfalls als Verräter. Auch Louis Garrel, der als Dreyfus dem historischen Vorbild ähnlicher sieht als sich selbst, legt seine Rolle nicht sympathisch an, sondern äußerst unnahbar und kühl – und entspricht damit so gar nicht irgendeinem Opferklischee. Auch der übrige Cast von Emmanuelle Seigner bis Melvil Poupaud überzeugt, herausragend ist noch Mathieu Amalric als dubioser Handschriftexperte.

Mit diesen Tugenden taugt »Intrige« als spannender Geschichtsunterricht über ein Kapitel der französischen Vergangenheit, das als Schlagwort den meisten, in seinen Einzelheiten aber nur wenigen geläufig sein dürfte. Viel wichtiger an diesem Film sind aber seine so zwanglosen wie vielfältigen Bezüge zum Heute, vom erstarkenden Antisemitismus und der Macht des Ressentiments über die gefährlichen Risse, die sich durch unsere Gesellschaften ziehen, bis hin zur Rolle der Medien und Fragen von Wahrheit und »alternativen Fakten«. Selten wirkte ein Historiendrama so gegenwärtig.

Meinung zum Thema

Kommentare

Mal ne etwas andere, penible Frage: Warum ist eigentlich bei jeder einzelnen Erwähnung des Filmtitels im Text der größte Teil des Wortes ("ntrige") kursiv geschrieben, nur das "I" jedes Mal nicht? Ich bin ratlos, was dieser Effekt bezweckt...

Danke für den Hinweis. Das war ein simpler Formatierungsfehler ;-) 

Mit dem deutschen Titel hat Regisseur Polanski gleich den Nagel auf den Kopf getroffen. Das was da in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts abgelaufen ist, war so. Man hat den unbescholtenen jüdischen Offizier Dreyfus (Louis Garrel) als Spion für den Erzfeind Deutschland ausgeguckt. Selbst als der neue Spionagechef Picquart (Jean Dujardin) belegen kann, dass Dreyfus unschuldig ist, wird die Verbannung des Delinquenten auf die Teufelsinsel aufrechterhalten.
Der Plot braucht ein wenig, bis er in die Gänge kommt, wird aber in Richtung Finale nochmals spannend. (Es gibt sogar einen Toten!)
Damals hat sich viel Prominenz für Dreyfus eingesetzt. Allen voran Emile Zola, der mit seiner Aktion ‘J’accuse‘ (Originaltitel) die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht hat. Polanski dokumentiert in eindrucksvollen Bildern dieses Drama von korrupten französischen Staatsbeamten, in dem der Antisemitismus fröhliche Urstätt feierte und in dem sich der Nepotismus bis in höchste Regierungskreise eingenistet hatte. Bei aller gewahrten Distanz wird Emotionalität nicht ausgeschlossen. Hier spielt die Generalsgattin Pauline (Emmanuelle Seigner, Polanskis Ehefrau) eine wichtige Rolle.
Einziger Einwand, den man geltend machen könnte, gewisse Vorkenntnisse sind bei der komplexen Sachlage hilfreich.
Vom Regisseur kann man menschlich halten, was man will, als Künstler kann es keine zwei Meinungen über ihn geben. Hier hat er wieder sein Können unter Beweis gestellt.

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